Richard David Precht: Wie die Politik Themen verfehlt

Der populäre Philosoph über Kanzlerin Angela Merkel, die deutsche Wahl und den Erfolg der einschläfernden Mitte.

KURIER: Sie haben den deutschen Wahlkampf als den langweiligsten aller Zeiten bezeichnet ...
Richard David Precht:
Nicht den Wahlkampf, die Wahl habe ich belanglos genannt.

Warum?

Weil die wichtigen Themen der Zukunft vorher und nachher kein Thema sind, sondern man streitet über einen Euro mehr oder weniger Mindestlohn oder die Pkw-Maut.

Aber das Wahlergebnis mit den Optionen Schwarz-Grün oder Schwarz-Rot, und beide möglichen Koalitionspartner wollen nicht wirklich, ist wenigstens spannend, oder?

Ich glaube, in beiden Parteien gibt es genug Politiker, die wollen. Wir werden keine Neuwahlen sehen.

Worauf führen Sie das starke Ergebnis der Angela Merkel zurück?

In einer Aufregungsdemokratie überlebt der am längsten, der sich am wenigsten aufregt. Wenn Sie im ganzen Mediengeschacher relativ positionslos dastehen und sich in Allgemeinplätzen verlaufen, dann kann Ihnen nicht viel passieren – mit viel Teflon haben Sie gute Chancen, politisch zu überleben. Erst wird Ihnen das als Farblosigkeit ausgelegt, das hat man bei Merkel lange gemacht. Aber wenn Sie sich lange genug im Amt halten, und das hat Merkel von Kohl gelernt, dann werden Sie so etwas wie der ruhende Pol, dem die Bevölkerung vertraut, weil er sich in keiner Frage exponiert.

Aber sogar die Hälfte der Grün-Wähler war in Umfragen für einen Verbleib Merkels als Kanzlerin. Kann das nicht auch daran liegen, dass in Deutschland nicht alles so schlecht ist, wie es im Wahlkampf diskutiert wurde?

Das glaube ich schon. Oberflächlich betrachtet gibt es viel Grund, zufrieden zu sein. Die Wirtschaftsdaten sind hervorragend, die Arbeitslosigkeit war selten so gering, und es gibt kein schreiendes Problem in Deutschland, das sich aufdrängt. In so einer Situation ist in Deutschland noch nie eine Regierung abgewählt worden.

Was ist dann das Problem?

Dass man den Anschein hat, es läuft, aber wenn man die Rezepte nicht ändert, wird es irgendwann einmal nicht mehr laufen. Das kennen wir von vielen Firmen, nehmen Sie Microsoft oder Nokia – die haben auch immer gesagt, es läuft doch, und kurze Zeit später waren sie völlig raus aus dem Markt, weil man auf das Bewährte gesetzt und nicht gesehen hat, was sich alles verändert.

Welche Veränderungen braucht es?

Es geht gar nicht darum, dass die Politik große Veränderungen herbeiführen muss, sondern dass wir in einer Welt leben, in der andere große Veränderungen herbeiführen, auf die die Politik keine Antworten findet.

Welche?

Zum Beispiel das, was die digitalen Weltmächte, Google, mit unseren Daten machen. Die NSA-Affäre ist ja ein Abfallprodukt einer Datenspionage, die vor allem kommerziell in ganz großem Stil betrieben wird. Die ganze Kommunikationselektronik dringt in unser Privatleben ein – auf all diese Fragen hat die Politik keine Antwort. Das Gleiche hatten wir vorher mit der Finanzwirtschaft: Nicht eines der Hauptübel, die damals zur Finanzkrise führten, ist heute gelöst – noch immer kreist die zehn- bis zwölffache Menge des realen Kapitals als fiktives Kapital über den Erdball, die Macht der großen Investmentbanken ist in nichts angetastet, man kann immer noch gegen Währungen spekulieren, durch den Fluss der Kapitalströme gewaltige Wirtschaftskreisläufe beeinflussen.

Das kann eine deutsche Regierung allein aber nicht lösen.

Stimmt, die nationale Politik hat deutlich an Bedeutung verloren. Aber international ist nichts an die Stelle getreten, und darauf müsste man eigentlich eine unglaubliche Anstrengung verwenden.

Dafür ist Wahlkampfzeit aber nicht die richtige Zeit.

Dennoch wäre es ein wichtiges Thema dafür gewesen, nämlich das Thema vereinigtes Europa, das mit solchen Problemen anders umgehen könnte.

Mehr Europa hat nicht nur in Wahlkampfzeiten keine Konjunktur.

Weil es Widerstand dagegen gibt, und das lässt die Politiker den Mut verlieren. Die Generation, für die Europa noch eine große Herzensangelegenheit war, die ist mit Helmut Kohl und Jean-Claude Juncker endgültig dahin. Dieses Europa war ja nur möglich, weil es starke Lokomotiven gab, die nicht nur den Zug, sondern den ganzen Bahnhof gezogen haben.

Merkel dominiert Europa künftig mehr denn je – ist sie keine Lokomotive?

Überhaupt nicht. Mit welcher eindrucksvollen Gestaltungskraft hat Kohl Europa und die deutsche Einheit gemacht! Man stelle sich in der selben Situation jemanden wie Merkel vor, die immer schaut, was denken die Leute, welche Risiken gehe ich ein, und im Zweifelsfall zaudert. Sowie es ernsthafte Probleme gibt, wird man sehen, dass Merkel die falsche Person ist – sie ist eine Kanzlerin für Schönwetterzeiten.

Na, Krisenzeiten hat sie schon zu bewältigen gehabt.

Ja, Merkel war gut im Gegenwartskrisenmanagement. Aber ein völliger Ausfall dahingehend, die Weichen für die Zukunft zu stellen, dass das nicht noch einmal passieren kann. Taktik kann sie gut, aber Strategie, ein Ziel zu haben, auf das man langfristig hinarbeitet, das fehlt ihr, das fehlt der deutschen Politik überhaupt.

Die Folge?

Die Folge ist Stillstand, nicht nur bei uns. Deutschland ist nun mal der stärkste Motor in Europa, aber wenn dieser Motor nicht mehr mit Vollgas fährt, dann fliegt die Karre aus der Kurve.

Zurück zur Wahl: Sie wollten Grün wählen ...

Nein, ich habe mir viel Ärger damit eingehandelt zu sagen, dass ich überhaupt nicht weiß, ob ich wähle.

Also hätten Sie Grün gewählt, hätte es den Absturz der Grünen auch nicht verhindert. Woran liegt der?

Am Steuererhöhungsprogramm, das den Mittelstand und die eigene Klientel getroffen hätte, und an der Pädophiliedebatte kurz vor der Wahl.

Welche Koalition würden Sie sich jetzt wünschen?

Ich müsste lange nachdenken, ob es einen Punkt gibt, wo es einen Unterschied macht, ob Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün regiert und was die beiden einbringen könnten.

Es überrascht mich jetzt, dass Sie nicht gesagt haben, es gibt theoretisch ja auch eine linke Mehrheit.

Ja, aber man darf sich von den Farben nicht irritieren lassen. Das Rot bei der SPD stammt aus einer sehr alten Zeit. Inhaltlich überschneiden sich die SPD und die CDU zu 90 Prozent, die SPD und die Linke nicht einmal zu zehn Prozent – die Linkspartei ist so etwas wie das schlechte Gewissen der Sozialdemokraten.

Und Rot-Rot-Grün wird aufgrund der Vergangenheit der Linken von der SPD sowieso ausgeschlossen.

Das wird von der SPD nur als Vorwand bemüht, weil die Vergangenheit ist nun wirklich lange her. Der Grund ist einfach, dass es eine Reihe von Forderungen der Linken gibt wie etwa die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, die die allgemeinen Spielregeln des Kapitalismus in Frage stellen. Was die SPD nicht will.

Das heißt, es gibt gesellschaftspolitisch gar keine linke Mehrheit in Deutschland?

Nein, weil auch sozialdemokratisch ist ja nicht links, sondern irgendwo in der Mitte. Und Merkel macht auch keine rechte Politik, sondern Mitte.

Die Mitteparteien CDU/CSU und SPD haben fast 70 Prozent der Stimmen, obwohl doch immer von der Zukunft der Kleinparteien, die Einzelinteressen vertreten, die Rede ist. Wieso?

Weil die meisten Menschen in Deutschland sich der Mitte zugehörig fühlen und Parteien wählen, die den Status quo bestätigen. Aber wir haben wieder eine sehr geringe Wahlbeteiligung gehabt. Daraus müsste man einmal lernen.

Was?

Ob das Verhältniswahlrecht noch zeitgemäß ist. Oder ob es nicht sinnvoller wäre, sich etwa an der Schweiz zu orientieren, wo es eine Konkordanz-Demokratie gibt, das heißt prozentual zu den Stimmen, die man bekommt, ist man in der Regierung vertreten. Dann würde ich wählen, und zwar Personen. In allen Parteien finde ich Politiker, die ich gerne in einem bestimmten Amt sehen würde. Und außerdem müssten Parteien ihre Zuständigkeiten reduzieren – bei der Besetzung einer Intendanz eines Fernsehsenders oder eines Schuldirektors haben Parteien heute nichts mehr verloren. Darüber regen sich die Menschen auf.

Warum gehen dann Parteien wie die Piraten, die Strukturen aufbrechen wollten, unter?

Ich fand Einiges, nicht alles, was die gemacht haben, wichtig und interessant, aber das funktioniert nicht als Partei. Sie waren eine Antwort auf die Parteienverdrossenheit der Jugend und haben sich dann zerfleischt. Und andere wie die „Alternative für Deutschland“ wollen ja keine politischen Strukturen aufbrechen. Die AfD ist gegen etwas, nämlich Europa, aber kam nicht ins Parlament, weil deren Vorsitzender Lucke ist kein Haider ...

Apropos; wieso haben Populisten wie Haider, Strache oder Stronach in Deutschland keine Chance, oder warum gibt es sie nicht?

Interessanter ist ja die Frage, warum gibt es die in Österreich mit seiner Vergangenheit? Aber wir hatten auch einen Schönhuber, und Guttenberg hätte auch das Zeug dazu gehabt.

Aber nicht als Rechtspopulist.

Oh doch, der war ja gesinnungslos und hätte sich vor jeden Karren spannen lassen. Und wenn so jemand wieder kommt und die Wirtschaftslage in Deutschland schlechter wird, gibt’s das vielleicht auch bei uns.

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