Protest-Marsch nach Istanbul wird zur Herausforderung für Präsident Erdoğan

Am Wochenende treffen die Kritiker der türkischen Regierung in der Bosporus-Metropole ein. Am Sonntag ist eine Demo für inhaftierte Parlamentarier mit bis zu 1,5 Millionen Menschen geplant

Am Anfang stand ein politischer Willkürakt – am Ende möglicherweise die offene Herausforderung von Recep Tayyip Erdoğan und der von ihm errichteten Präsidialrepublik. Der "Marsch für Gerechtigkeit" der türkischen Opposition erreicht heute Istanbul. Was vor wenigen Wochen losgetreten wurde, hält jetzt die Türkei in Atem.

Skandalgeschichte

Am 14. Juni 2017 verurteilte ein Istanbuler Gericht Enis Berberoğlu, den ehemaligen Chefredakteur der Tageszeitung Hürriyet und derzeit Parlamentsabgeordneter der sozialdemokratischen CHP, wegen des Vorwurfs der Spionage zu 25 Jahren Haft. Es ging um ein Video, das belegt, dass der türkische Geheimdienst MIT heimlich Waffen an die Terrorgruppe IS liefert.

Für die CHP war mit der Verurteilung ihres Parteigenossen Berberoğlu die letzte rote Linie überschritten. Die bis dahin träge Opposition setzte sich in Bewegung. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Parteichef Kemal Kilicdaroglu kündigte an, auf der Suche nach Gerechtigkeit für Berberoğlu und alle anderen zu Unrecht in der Türkei inhaftierten Journalisten und Politiker von der Hauptstadt Ankara bis zum Istanbuler Stadtteil Maltepe zu marschieren – dort ist Berberoğlu inhaftiert.

Bereits am 15. Juni machte er sich mit einigen Unterstützern auf den Weg. Mittlerweile hat der fast Siebzigjährige den größten Teil der der rund 450 Kilometer langen Strecke bereits hinter sich gebracht – und die Vorstädte von Istanbul erreicht.Mit seiner Aktion versucht Kilicdaroglu eine breite Öffentlichkeit zu schaffen und die zersplitterte Opposition zu organisieren. Daher sind Parteibanner auf dem Marsch verboten.

Prominente Mitläufer

Nur wenn die Aktion überparteilich bleibt, kann sie sich zu einer Massenbewegung entwickeln, lautete das Kalkül. Das scheint aufzugehen: Je mehr sich der Konvoi Istanbul nähert, desto mehr "Mitläufer" schließen sich an. Nach Angaben der CHP sind es bereits bis zu 80.000 Menschen. Darunter auch viele Prominente, beispielsweise die Schriftstellerin Asli Erdoğan, der ebenfalls eine langjährige Haftstrafe droht.

An diesem Sonntag wird der Konvoi am Ziel in Maltepe erwartet. Die CHP rechnet beim Eintreffen mit 1,5 Millionen Menschen. Zumindest dann, wenn die Regierung nicht einschreitet und die Zufahrtswege blockiert, um das große Finale zu verhindern. Denn der bisherige Erfolg der Aktion ist der Regierungspartei AKP und Präsident Erdoğan ein Dorn im Auge. Er droht, dass er Kilicdaroglu und seine Mitläufer jederzeit stoppen lassen könne.

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