Die Solidarität steht über der Angst

Gedenkminute Donnerstag Mittag vor Notre-Dame: Der Platz ist im strömenden Regen gefüllt, nur das Läuten der Kathedrale im Herzen von Paris durchbricht die Stille.
Das Gedenken an die Ermordeten wird von der Geschlossenheit gegenüber dem Terror getragen.

Die Laternenmasten rund um die Place de la République sind beklebt mit Zetteln, auf denen ein Zitat von Stéphane Charbonnier zu lesen ist: "Lieber würde ich stehend sterben, als auf Knien zu leben." So hat der Herausgeber von Charlie Hebdo einst auf Drohungen reagiert; am Tag nach dem Attentat auf das kritische Satire-Magazin, bei dem er und elf weitere Menschen starben, ist er damit überall zitiert.

In der Mitte des Platzes, rund um die Statue de la République, auf deren Sockel die Grundwerte der französischen Republik, Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit eingraviert sind, werden Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet; man bringt Bilder der Ermordeten und Titelblätter von Charlie Hebdo; dazwischen Stifte, immer wieder Stifte als Zeichen der Solidarität mit den getöteten Karikaturisten.

Und überall, auf Plakaten, als Graffiti auf dem Boden, auf Schildern in Schaufenstern, auf Anzeigeflächen und elektronischen Verkehrshinweistafeln, überall steht geschrieben: "Je suis Charlie", "Ich bin Charlie", es ist die omnipräsente Solidaritätsformel der Trauernden.

Gefühlsmelange

Paris ist am Tag danach von einer volatilen Gefühlsmelange erfasst.

Da ist der Schock: Dass so etwas passieren kann, hier, mitten in Paris, einfach so, zwei schwerst bewaffnete Terroristen, die eine halbe Redaktion auslöschen.

Da ist die Angst: Dass es weitere Anschläge gibt, das Massaker bei Charlie Hebdo der Beginn einer Serie war; dass Racheakte gegenüber den fünf Millionen Muslimen in Frankreich eine Spirale der Gewalt auslösen.

Und da ist, am sichtbarsten, am greifbarsten, die Solidarität mit den Opfern, die Entschlossenheit, sich nicht dem Terror zu beugen, sich nicht vor ihm zu verstecken.

35.000 Menschen demonstrierten noch am Mittwochabend auf der Place de la République, am Donnerstagabend wollten sie wiederkommen, für Sonntag ist eine nationale Kundgebung angesetzt.

Zur landesweiten Gedenkminute Donnerstagmittag ist der Platz vor Notre Dame im strömenden Regen gefüllt mit einem Meer aus Regenschirmen. Unter dem Weihnachtsbaum vor der Kirche bilden Menschen Kreise, nehmen sich an den Händen, andere senken ihre Köpfe und halten Stifte in die Luft, nur das Läuten der Kathedrale durchbricht die Stille.

Blumen vom Markt

1500 Meter Luftlinie entfernt gehen die Menschen am Boulevard Richard Lenoir ihrem Alltag nach: Es ist Markttag, trotz des miesen Wetters sind viele Einkäufer unterwegs. Einige drehen an den letzten Ständen mit Fisch, Fleisch und Gemüse nicht um Richtung Bastille, sondern gehen weiter. Dort, wo der Weg nicht mehr von Marktständen, sondern TV-Übertragungswagen gesäumt wird, ist ein kleines Stück Gehsteig abgesperrt: Es ist jene Stelle, an der die Attentäter, schon auf der Flucht, einen Polizisten aus nächster Nähe erschossen, als dieser schon auf dem Boden lag. Auch hier wird der Toten gedacht, mit Blumen direkt vom Markt, dazu Kerzen, Stifte, "Je suis Charlie".

Fußgänger bleiben stehen, halten einen Moment inne, machen ein Foto vom Tatort und dem wachsenden Blumenberg. Ein Mann schwingt sich vom Rad, fragt: "Hier haben sie ihn umgebracht, richtig?" Er hat, wie die meisten, die heute hier trauern, das Video im Internet gesehen, auf dem der Mord an dem Polizisten festgehalten wurde.

Ein Bursch stellt sich dazu: Hugo, 18, Student, er wohnt 100 Meter von hier, "ich kann es nicht fassen", sagt er. Zu den großen Abenddemos traut er sich nicht: "Wenn es noch einen Anschlag gibt, dann sicher dort." Er habe Charlie Hebdo selten gelesen, aber die Debatte über manche Karikaturen verfolgt: "Sind sie manchmal zu weit gegangen? Vielleicht. Aber wenn, dann in alle Richtungen." Es sei, sagt Hugo, nicht nur eine Tragödie für Frankreich, sondern auch für den Islam, für die Muslime im Land, die schon länger bei vielen Menschen kein gutes Standing hätten.

Einmal um die Ecke, Rue Nicolas-Appert Nummer 10, liegt das Büro von Charlie Hebdo. 24 Stunden nach dem Attentat ist die Straße gesperrt, Polizisten stehen vor dem Eingang, TV-Teams senden vom Tatort aus ihre Berichte in die Welt.

"Es geht weiter"

Remi, 24, Journalist der AFP, erzählt von der Solidarität in der Branche: Das Fernsehen, Le Monde und andere haben Charlie Hebdo ihre Hilfe angeboten. "Sie werden Geld, Räume, Mitarbeiter bekommen, damit sie weiter erscheinen", sagt Remi. "Man kann sich zwar noch nicht vorstellen, wie, aber es geht weiter."

Je suis Charlie.

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