Ostukraine: "Wieso schießen sie auf uns?"

In Slawjansk treffen Armee und Separatisten aufeinander. Die Bevölkerung steht dazwischen.

Vor der Stadt Slawjansk biegt sich die Landstraße in einer lang gezogenen Kurve. Hier stehen sie, die ukrainischen Truppen. Sechs Panzer haben sie auf und neben der Straße postiert. Es ist eine Einheit aus Dnepropetrowks. Drei ihrer Panzer haben ihre Geschützrohre auf Slawjansk gerichtet, drei in die andere Richtung. Zum ersten Checkpoint der Kämpfer in Slawjansk ist es kaum ein Kilometer – und in die andere Richtung sind es wenige Kilometer nach Kramatorsk. Die Stadt ist ebenfalls in der Hand von Separatisten.

Slawjansk gleicht einer Festung – einer belagerten Festung. Betonbarrikaden blockieren die Hauptzufahrtsstraße, in die Stadt kommt man von dieser Seite aus nur über Feldwege.

Im Zentrum reiht sich eine Straßensperre an die andere. Schmächtige Burschen, groß gewachsene Männer, die ganz augenscheinlich Erfahrung im Umgang mit Waffen haben, und ältere Herren. Sie tragen Kalaschnikows und schultergestützte Raketenwerfer. Sie durchsuchen Autos, Rucksäcke und kontrollieren Papiere. Ein ukrainischer Einreisestempel ist hier eher suspekt als korrekt. Was zählt, sind Papiere der selbst deklarierten Volksrepublik Donezk, die heute, Sonntag, über ihre Loslösung von der Ukraine abstimmen lässt (siehe auch unten).

Schüsse auf Kind

Auf einem kleinen Platz in einer Vorstadt verkauft Raisa Suppenkräuter aus dem eigenen Garten. Sie sagt: "Bin ich ein Terrorist?" Sie ist aller widrigen Umstände zum Trotz gerne hier, wird nicht weggehen. "Wohin sollten wir auch gehen?", fragt sie. "Ich wurde hier geboren, ich werde hier sterben." Und: "Es ist keine Frage, auf welcher Seite man steht, wenn die andere Seite auf einen schießt."

Geschossen wird hier jeden Tag. Erst am Vortag hatten Unbekannte auf einen spielenden 12-Jährigen gefeuert, der schwer verletzt überlebte.

Hier ist es keine Frage, wer es war. "Sie haben auf ihn gefeuert, weil er ein Georgsband (ein Symbol der Separatisten, Anm.) trug", sagt Raisa. Sie, das ist die Armee. "Wieso setzen sie Einheiten aus anderen Regionen ein? Haben sie Angst? Wieso schießen sie überhaupt auf uns?" Eine andere Frau aus einer der umkämpften Vorstädte berichtet, dass jede Nacht Schüsse fallen. Strom hat sie seit einer Woche nicht mehr.

Aus Sicht Kiews ist Slawjansk von Terroristen besetzt. Seit einer Woche gibt es immer wieder schwere kämpfe. "Wer sind hier die Terroristen?", motzt ein wild gestikulierender Kämpfer, der auf Patrouille ist. Aus Odessa in der Südukraine ist er, wie er sagt. Sein Akzent ist nicht zuordenbar. "Wir sind Terroristen?", brüllt er nochmal. "Sagen sie das einmal dem Rechtem Sektor, der unsere Kameraden in Odessa verbrannt hat. Und wer schießt in Mariupol wild um sich? Wir verteidigen uns nur."

Die schweren Kämpfe in der Hafenstadt Mariupol südlich von Donezk sowie das heutige Referendum sorgen für Nervosität hier nördlich der Hauptstadt der Region. Seit Wochen haben Aufständische in Slawjansk Verteidigungsstellungen gebaut, Straßen verbarrikadiert und sich auf einen Angriff vorbereitet. Sie sind bestens ausgerüstet und die Stimmung in der Bevölkerung ist – wenn vielleicht zum Teil nicht ausgesprochen für sie – nur in Ausnahmen gegen sie.

"Diese Leute"

In einem Spital in der Stadt steht eine alte Dame am Schalter für die Medikamente. Eine Katastrophe sei das, was sich hier ringsum abspiele. Die ukrainischen Soldaten hätten keine Chance gegen "diese Leute". Sie spricht wirr von Nachtsichtgeräten, die die ukrainischen Truppen so dringend bräuchten, von der technischen Überlegenheit der Separatisten und von ausländischer Unterstützung. Die Dame hinter dem Schalter senkt den Blick, der Herr hinter ihr schüttelt den Kopf und ein junger Bursche sagt mit bissigem Grinsen: "Dass sie keine Chance haben, stimmt – aber nur das."

Wenn Kämpfer in dieser Stadt einen Raketenwerfer von den ukrainischen Truppen erbeuten, klingt das so: "Sie haben einen Raketenwerfer entwendet, um Menschenleben zu retten." Ein alter Mann in einem Laden drückt es derart aus. Zu ruhig ist es ihm an diesem Tag. Er will nur schnell einige Sachen besorgen, um dann rasch wieder nach Hause zu kommen. "Es ist nicht gut, wenn es so ruhig ist, da liegt etwas in der Luft."

An einem Kontrollpunkt vor der Innenstadt steht ein bulliger Mann mit Glatze. Er sagt: "Alles was kommen wird, ist das morgige Referendum, unser Sieg und danach gehen wir nach Kiew."

Alles ruhig, alles friedlich, kein Problem" – in einem Park im Zentrum von Donezk (Ukraine) haben sich zwei Burschen niedergelassen. Beim Kiosk haben sie sich mit Bier eingedeckt, sie rauchen, quatschen, erzählen einander Scherze vom Abend zuvor. Es war ein langer.

Referendum

Ostukraine: "Wieso schießen sie auf uns?"
Es ist ein freier Tag und das normale Leben geht seinen Lauf. Man spaziert, trifft sich, bestaunt den Frühling – wären da nicht die Barrikaden um die Verwaltungsgebäude der Stadt, wären da nicht die Jungs in ihren Tarnanzügen und dem Wachhundblick, die verbarrikadierten Geschäfte. Und vor allem: Wären da nicht die Berichte aus Orten und Städten in der nahen Umgebung, von Schießereien und Überfällen und Kämpfen. Und wäre da nicht zuletzt das Referendum der Separatisten, bei dem die Ostukrainer heute, Sonntag, über ihre Abspaltung von Kiew abstimmen sollen.

"Es ist schon geisterhaft", sagt ein Student. "Der kollektive Wahnsinn ist über uns hereingebrochen." Was er meint, sind eben die Jungs mit dem scharfen Blick, die vielen Barrikaden, die Schießereien.

Bilder aus Donezk:

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Abends ausgestorben

Donezk war nie eine brodelnde Metropole. Donezk ist eine Bergbaustadt. Vom Zentrum, das auf einem sanften Hügel liegt, kann man die Aushubhalden der Gruben sehen, die zum Teil mitten in der Stadt liegen. Aber dieser Tage ist Donezk ausgestorbener als sonst, wenn die Sonne untergegangen ist. Geschäfte schließen früher, einige haben überhaupt zu und ihre Auslagen verbarrikadiert, und Autosalons in einem Vorort haben alle Wägen weggeschafft, nachdem eines der Geschäfte vor kurzem ausgeräumt wurde.

"Viel zu viele Menschen rennen mit viel zu vielen Waffen herum" – und viel zu viele Menschen, die damit nicht umgehen könnten, hätten derzeit viel zu viel Macht, meint eine junge Frau. Das wirke sich aus. Sie selbst schaue, dass sie bei Dunkelheit zumindest nicht alleine draußen sei. Denn auf die Polizei sei keinerlei Verlass mehr. Sobald es Probleme gebe, würden sich die Beamten zurückziehen, um noch mehr Probleme zu vermeiden – oder würden zumindest keinen Finger rühren, um einem zu helfen.

Auf die Frage, wer denn das Sagen habe in der Stadt und der Region, zuckt ein Straßenpolizist nur mit den Schultern, grinst verlegen und wendet sich ab.

In einem Laden im Zentrum steht Marta, eine gut genährte junge Dame mit prächtigem Lächeln, das noch breiter wird auf die Frage, warum denn die Konserven-Regale so schütter bestückt seien. Sie hat eine einfache Antwort: "Weil die Leute kaufen wie verrückt – vor allem Konserven." Es gebe zwar noch keinen Mangel, aber die Menschen lagerten ein und der Vertrieb komme anscheinend mit dem Nachschub nicht mehr nach. Ein Kaufverhalten, dass die Meinung vieler bestätigt, dass die Krise im Osten des Landes noch lange nicht ausgestanden ist.

Gehamstert wird auch, was Geld angeht. Bankomaten funktionieren selten – entweder aus technischen Gründen oder weil sie leer sind. Manche sagen, sie würden nach neuerlicher Befüllung gleich leer geräumt, andere sagen, sie würden gar nicht mehr befüllt. Ein danach befragter Geldbote wollte dazu aber keinen Kommentar abgeben und an einem Bankschalter wurde diese Problematik nur mit einem freundlichen Lächeln und einem gepressten "Leider" kommentiert.

Währung stürzt ab

Es ist aber vor allem der Verfall der Landeswährung Griwna, der den Menschen zu schaffen macht. Gegenüber dem Euro war er in den vergangenen Monaten zum Teil zu einhundert Prozent gefallen. Derzeit sind es rund 50 Prozent gegenüber einem über Jahre geltenden Kursverhältnis. Jene, die ihre Bezahlung in Dollar oder Euro erhalten, freut das – und das ist bei vielen Unternehmen der Fall (vor allem was den Dollar betrifft). Aber für die Mehrheit, die in Griwna bezahlt wird, kommt das einer Katastrophe gleich. Vor allem weil der Donbass eine Region mit einer hohen Arbeitslosigkeit und niedrigen Durchschnittsgehältern ist. Lebensmittel- und Treibstoffpreise steigen, Gehälter sinken.

"Heute leben wir von einem Tag auf den anderen, die einzigen Planungen die ich anstelle, sind die, um von hier wegzugehen", sagt der Student. Donezk, das sei derzeit kein Ort, an dem man es lange aushalte.

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