Orbáns Ungarn – ein Sittenbild

Den Zug zur Führungsspitze hatte Orbán wohl immer.
Paul Lendvai: 60 Jahre nach Ungarn-Aufstand "illiberale Demokratie".

Ungarns national-konservativer Regierungschef Viktor Orbán und der wohl prominenteste Österreicher mit ungarischen Wurzeln, Publizist, Autor und Osteuropa-Experte Paul Lendvai – sie werden eher keine Freunde mehr. Rechtzeitig zum 60-jährigen Gedenken an den Ungarn-Aufstand 1956 präsentiert Paul Lendvai sein jüngstes Buch – "Orbáns Ungarn".

Doch Anlass zum Feiern, zum Bewundern der großen Sprünge, die Ungarn seit den Tagen der Rebellion gegen den Kommunismus bis heute vollzogen hat, dafür sieht der kritische Autor kaum Gründe. Es ist ein nüchtern düsteres Bild des heutigen Orbán-Ungarn, das Lendvai zeichnet. Das einer von Orbán angepeilten "illiberalen Demokratie", wo der links-liberalen Opposition schlichtweg die Stimme wegbrach und wo der Machtmensch Viktor Orbán schaltet und waltet, als gäbe es nur noch seine Fidesz-Partei und deren Getreue.

Wie konnte es dazu kommen, dass Orban, das "größte und zugleich umstrittenste politische Talent", wie Lendvai schreibt, ein ganzes Land unter seine Kontrolle brachte? Und wie konnte sich der Sohn einer bitterarmen Familie, dem Politik nicht in die Wiege gelegt worden war und der sich glühend immer nur für Fußball interessierte, zu einem Regierungschef hocharbeiten, der heute zumindest in Osteuropa die Deutungshoheit über die europäische Flüchtlingspolitik übernommen hat?

Zug zur Macht

Den Zug zur Führungsspitze hatte Orbán wohl immer. Auch schon in jenen Tagen, als er als junger, aufmüpfiger und mutiger Redner im Sommer 1989 schlagartig berühmt wurde. Große Hoffnungen ruhten auf ihm, dem unverbrauchten, unbändig dynamischen Jung-Politiker, der Ungarn in die junge Demokratie begleitete.

Auch Lendvai war begeistert. Aber erst jetzt, im Blick zurück, sollte der Autor erkennen, wie früh schon Viktor Orbán begonnen hatte, alles und jeden aus dem Weg zu drängen, der ihm bei seinem Aufstieg zur Macht behinderte. Präzise und spannend wie einen Roman zu lesen schildert Lendvai: Orbán hat aus seinen Niederlagen – und es gab einige – gelernt. Heute hat der ungarische Premier seine politischen Pflöcke so eingeschlagen, dass er und seine Fidesz-Partei auf absehbare Zeit nicht mehr von der Macht zu verdrängen sind.

Bei Autor Paul Lendvai schwingt angesichts dieser Aussicht über weite Strecken des Buches die Enttäuschung mit – die Enttäuschung darüber, dass sein Ungarn 60 Jahre nach dem Aufstand gegen die Kommunisten keine liberale Demokratie genießen kann.

Orbáns Ungarn – ein Sittenbild
Orban, Lendvai, Buch

Orbáns Ungarn: Von Paul Lendvai. 240 Seiten, Kremayr & Scheriau, 24 Euro

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