"Ohne uns steht das Land still"

Polnisches Alltagsleben auf der Insel: vom Essen bis zur Volksmusik alles aus der alten Heimat.
"Brexit" und erste rassistische Übergriffe lassen Einige an Heimkehr denken.

Das "Schleicht euch, verschwindet nach Polen", nachts in riesigen Lettern auf die Auslage gesprayt, ist inzwischen entfernt. Der Schock aber will vorerst nicht verschwinden. "Wir haben so etwas noch nie erlebt, das war doch immer ein gastfreundliches Land", macht Joanna Mludzinska gegenüber dem KURIER ihre Sorge deutlich. Sie ist die Leiterin des polnischen Zentrums im Londoner Stadtteil Hammersmith, das beschmiert worden ist, und muss jetzt viele besorgte Landsleute beruhigen: "Wir sind alle etwas besorgt, was nach dem Brexit-Votum passieren könnte."

Überall am Werk

Solchen Sorgen begegnet man in London in diesen Tagen überall. Egal ob in Hotels, Restaurants oder auf Baustellen, überall sind Ausländer am Werk. Fast eine Million alleine aus den EU-Staaten in Mittel- und Osteuropa, Rumänen, Litauer, Slowaken und vor allem Polen.

Polen wie Kesia, die seit 16 Jahren in Hammersmith wohnt, als Krankenschwester inzwischen eine Abteilung leitet, zwei Kinder hier großgezogen hat – und sich trotzdem nicht mehr wohlfühlt. Die Verwandten aus Birmingham haben angerufen, sie seien beschimpft worden: "Das klingt alles nicht so schlimm, aber dieses Gefühl, dass sie uns eigentlich nicht mögen, dass sie auf uns herunterschauen, wird stärker."

Kesia ist ihren Akzent bis heute nicht losgeworden, auch weil sie im Privatleben am liebsten mit ihren polnischen Freunden zusammen ist. Die Engländer seien ihr zu distanziert, erzählt die attraktive Mittvierzigerin: "Nach Polen zurückgehen, na ja, zumindest überleg ich mir das immer öfter."

Doch das ist für viele nicht so einfach, schließlich hat man in all den Jahren hier einiges aufgebaut, zahlt einen Kredit für das eigene Haus ab wie die Rumänin Loredana. Nach zehn Jahren ist sie nicht nur stolze Chefin der Putzbrigade in einem Hotel, sondern sieht auch ihre ganze Zukunft in Großbritannien. Die zwei Kinder gehen in einen privaten Kindergarten. Das kostet zwar viel Geld, aber dort sollen sie das perfekte Englisch lernen, das sie und ihr Mann, ein Bauarbeiter, ihnen nicht beibringen können: "Die sollen ruhig richtige Engländer werden."

Dass sie nach dem Brexit als EU-Bürgerin nicht bleiben darf, darüber macht sich Loredana keine Sorgen. Sie hat längst unbegrenztes Aufenthaltsrecht. Viele Kolleginnen aber hätten jetzt Angst, dass ihre Arbeitsvisa nicht verlängert, dass sie nach einem Brexit überhaupt ungültig würden. "Solange ich einen Job habe und Steuern zahle, passiert mir sicher nichts", bringt sich eine andere Rumänin in die Debatte ein, "aber was ist, wenn ich meine Arbeit auf einmal los bin? Muss ich dann gehen?"

Gedanken, die sich Chris, der eigentlich Kryztof heißt, und aus Krakau kommt, grundsätzlich nicht macht. Er hat auch nach zehn Jahren hier kein Aufenthaltsrecht auf Dauer, einfach weil er sich nie darum gekümmert hat. Chris ist überzeugt davon, dass er gebraucht wird – und er hat jeden Grund dazu.

Fachmann für alles

In einem halben Dutzend kleiner Hotels ist er für alles, von kaputten Stromleitungen bis zu undichten Fenstern, verantwortlich. Nichts funktioniert ohne ihn, und seine Kollegen, allesamt aus Polen. Dass man den Engländern die Arbeit wegnehmen würde, findet er lachhaft: "Das erzählen die am Vormittag vor dem Supermarkt, wo sie ihre Sozialhilfe versaufen." Morgens um sechs aber, in der Londoner U-Bahn, da seien er und seine Kollegen unter sich mit ihren Werkzeugkisten: "Ohne uns steht das Land nämlich still."

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