USA belauschten 35 Spitzenpolitiker

USA belauschten 35 Spitzenpolitiker
Merkel und Hollande sollen die NSA-Affäre aufklären – bis Dezember will man Ergebnisse.

Eigentlich soll es um eine gemeinsame Asylpolitik und die Bankenunion gehen – von diesen Themen dringt beim derzeit laufenden EU-Herbstgipfel aber so gut wie gar nichts nach außen. Vielmehr geht es darum, dass Interna der deutschen Regierungsarbeit offenbar für die NSA interessant sind: Die Spitzel-Affäre um das Handy von Angela Merkel beherrscht auch den zweiten Gipfeltag.

Merkel ist nicht allein

Mit ein Grund dafür: Der Guardian enthüllte – basierend auf Dokumenten des Whistleblowers Edward Snowden –, dass nicht nur die deutsche Kanzlerin, sondern insgesamt 35 Spitzenpolitiker im Visier der USA gestanden hätten. Wer sich noch auf der Liste befand, wurde allerdings nicht mitgeteilt.

Wer auch immer es gewesen sein mag – die EU-Spitzen drängen nun jedenfalls auf eine Klärung der Dinge. Bis Dezember soll dies passieren, ließ Österreichs Kanzler Faymann noch in den Nachtstunden wissen. Am Ende der Debatte soll ein gemeinsames Rahmenabkommen mit den USA zur Arbeit der Geheimdienst stehen.

Geführt werden sollen die Verhandlungen gemeinsam mit den französischen Nachbarn. Das Allerwichtigste sei jetzt, mit den USA eine Basis für die Zukunft zu finden, sagte eine merklich verstimmte Merkel: "Für die Zukunft muss etwas verändert werden und zwar gravierend."

Wenig Konsequenzen

Gemeinsame Vorhaben absagen will Merkel deshalb aber nicht: Eine Unterbrechung der Gespräche über ein Freihandelsabkommen mit den USA, wie von Parlamentspräsident Schulz gefordert, unterstütze sie nicht.

So müsse das Thema Datenschutz vorrangig behandelt werden, meinte man. Allerdings wurde die Zielmarke für die EU-Datenschutzreform vom kommenden Jahr auf "Ende 2014 oder Anfang 2015" aufgeschoben. Grund seien die Europawahlen, durch die es oft Verzögerungen gebe, erläuterte Hollande.

Obama schweigt dezent

Auf der anderen Seite des Atlantiks schlägt die Affäre deutlich weniger Wellen als hierzulande. US-Präsident Obama äußerte sich nicht direkt dazu; seine Beraterin in Fragen des Heimatschutzes und der Terrorismusabwehr, Lisa Monaco, ließ aber via USA Today wissen, dass man die Verstimmungen offenbar ernst nehme: Sie sieht ihr Land angesichts der Geheimdienstaffäre vor "erheblichen Herausforderungen".

Zugleich verteidigte sie die Arbeit der US-Geheimdienste, die arbeiteten wie in "allen Ländern" auch. Sie unterlägen dabei sogar "mehr Einschränkungen und Aufsicht als in jedem anderen Land". Merkel hatte sich bekanntlich telefonisch bei Obama beschwert, zudem wurde der US-Botschafter in Deutschland, John Emerson, einbestellt.

Es ist ein scheinheiliger Chor der Empörung, der da in Europa angestimmt wird. Dass US-Geheimdienste die deutsche Kanzlerin abhören, ist insofern nicht weiter erstaunlich, da es in Europa wohl kaum ein lohnenswerteres Ziel für Spionage gibt. Für Geheimdienste galt seit jeher, dass die einzige Grenze, die ihrer Arbeit gesetzt wird, jene des technisch Machbaren ist. Zu Monstern wuchsen sie schließlich im Kalten Krieg heran: Ausgestattet mit allem, was an Hightech verfügbar war – und vor allem ganz bewusst befreit von jeglicher demokratischer Kontrolle. Da die Gegner, die es auszuhorchen galt, Diktaturen waren, wollte man eben auch im Westen vermeiden, dass sich die eigenen Agenten durch lästiges Interesse von Parlamentariern oder Medien eine Blöße gaben.

Diese technokratischen Monster haben wie alle großen Institutionen ein Eigenleben und einen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb. Wenn man sie also nicht unter massivem politischen Druck reformiert, machen sie einfach weiter wie bisher – und die revolutionären Entwicklungen in der Telekommunikation machen sie effektiver und damit gefährlicher. Aufrufe, die Spione doch endlich in die Schranken zu weisen, greifen zu kurz. Entweder die Politik bedient sich weiter der Geheimdienste und nimmt damit den Bruch demokratischer und diplomatischer Spielregeln in Kauf, oder sie meint, darauf verzichten zu können. Dann aber ist eine Zerschlagung von Ungetümen wie der NSA oder der CIA unvermeidlich. Wenn die westlichen Demokratien wirklich damit aufhören wollen, einander zu bespitzeln, wird man die Geheimdienste zur Zusammenarbeit zwingen müssen. Aber davon sind all die Politiker, die jetzt ihre Empörung vor sich hertragen, weit entfernt.

Die NSA-Spionageaffäre wird nicht nur in politischen Kreisen diskutiert – auch die Unterhaltungsindustrie beschäftigt sich damit. Stars wie Oliver Stone, Maggie Gyyllenhaal oder John Cusack protestieren öffentlich gegen die Bespitzelung: Sie haben unter dem Motto „Stop Watching Us“ ein Video veröffentlicht.

Wenn Politiker sensible Informationen austauschen, setzen sie meist auf sogenannte Cryptophones. Diese Geräte erlauben es, Gespräche, SMS oder eMails verschlüsselt zu übermitteln. Das funktioniert aber nur, wenn auch das Gegenüber ein kompatibles Cryptophone verwendet. Ob es sich auch beim mutmaßlich abgehörten Handy von Angela Merkel um ein Sicherheits-Handy handelt, ist derzeit nicht bekannt. Selbst deutsche Cryptophone-Hersteller wissen nämlich nicht, ob die Kanzlerin eines ihrer Geräte verwendet. „Wir haben eine vierstellige Zahl an Geräten an Behörden und Ministerien verkauft. Aus Sicherheitsgründen erfahren wir aber nicht, wer diese verwendet. Die Kanzlerin hat zudem mehrere Handys“, sagt Peter Rost vom Cryptophone-Hersteller Rohde & Schwarz dem KURIER. Vermutet wird, dass derzeit ein Produkt der Firma Secusmart im Einsatz ist.

Viele Fragen offen

Auch Sicherheitsexperten rätseln, welches der Telefone der Kanzlerin betroffen war und wie die Angriffe abgelaufen sind. Da der Vorfall in Zusammenhang mit den Enthüllungen des Aufdeckers Edward Snowden bekannt wurde, ist anzunehmen, dass die Bespitzelung der Kanzlerin schon vor einiger Zeit passierte. Die Welt berichtet, dass die Nummer eines nicht mehr verwendeten Secusmart-Cryptophones der Kanzlerin in NSA-Dokumenten auftaucht. Das schließt freilich nicht aus, dass andere Handys belauscht wurden. Sollte es sich bei einem abgehörten Handy um ein ungesichertes Privat-Smartphone der Kanzlerin gehandelt haben, wäre das Mithören für einen US-Geheimdienst eine leichte Übung. Dass Politiker ihre privaten Geräte verwenden, kommt durchaus vor. Der deutsche Noch-Minister Philipp Rösler hat unlängst gestanden, trotz Sicherheitsbedenken privat nicht auf sein iPhone zu verzichten.

Da bei handelsüblichen Telefonen unverschlüsselt Daten übermittelt werden, ist es einfach, diese über manipulierte Funkzellen oder direkt über die Leitungen der Netzbetreiber abzusaugen. Bei Cryptophones ist das schwieriger. „Das Knacken unserer Verschlüsselung ist mit derzeitigen Mitteln praktisch unmöglich“, so Rost. Absolute Sicherheit gibt es aber nicht. Dass die NSA, die über beträchtliche technische und finanzielle Mittel verfügt, gängige Verschlüsselungen knacken kann, ist möglich. „Einfacher wäre es aber, ein Gerät mit Schadsoftware zu infizieren, die den direkten Zugriff auf das Mikrofon erlaubt“, so Rost. Welche Geräte für den Einsatz in der Politik als geeignet gelten, bestimmt das deutsche Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Derzeit haben eine Deutsche-Telekom-Tochter und die Firma Secusmart den BSI-Segen. Trotzdem sind auch Geräte von anderen Herstellern im Einsatz. Secusmart bestätigt, ins Bundeskanzleramt geliefert zu haben: „Unsere Handys sind aber abhörsicher“, so eine Sprecherin gegenüber dem KURIER.

Nach Angela Merkel auch Werner Faymann und Heinz Fischer? Vorerst ist unklar, ob nicht auch weitere europäische Staats- und Regierungschefs, inklusive in Österreich, das Schicksal der deutschen Kanzlerin Merkel geteilt haben und vom US-Geheimdienst NSA abgehört wurden. Das Weiße Haus gab dem KURIER eine ausweichende Antwort: „Die Vereinigten Staaten verfolgen die Verbindungen von Kanzlerin Merkel nicht und werden es nicht tun. Darüber hinaus bin ich nicht in der Lage, jede einzelne angebliche Geheimdienst-Aktivität öffentlich zu kommentieren“, erklärte Caitlin Hayden, Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrats auf Anfrage des KURIER, ob auch Kanzler Werner Faymann und Bundespräsident Heinz Fischer bespitzelt wurden.

Zwei US-Sicherheitsexperten – James Bamford und James Lewis – erklären dem KURIER, was der jüngste Abhörskandal genau bedeutet. Bamford gilt als der Experte für die NSA, hat viele Bücher über die Geheimdienstbehörde veröffentlicht. Lewis leitet das Programm für Technologie und Öffentliche Politik des Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington.

KURIER: Ist es normal beim Geheimdienst, dass ein Staat Verbündete bespitzelt?

James Bamford: Das ist der normale Betrieb. Nicht normal ist, dass man dabei erwischt wird. Wir haben in der Antwort des Weißen Hauses gesehen, dass sie über die Gegenwart und die Zukunft sprechen, aber nicht über die Vergangenheit. Es ist offensichtlich, dass sie es in der Vergangenheit getan haben, und was sie im Grunde sagen, ist: Wir werden es in Zukunft nicht machen. Der größere Skandal ist aber, dass man Privatpersonen belauscht.

James Lewis: Ehrlich gesagt: Abhören gehört zu unserer Welt. Telefonleitungen in Washington werden die ganze Zeit von verschiedenen Ländern abgehört. Politische Führer werden bespitzelt – das ist normal. Wenn Merkel etwa nach Frankreich reist, darf sie nicht glauben, dass ihr Handy sicher sei. Und das weiß ich genau. Der Spiegel hat ein Interesse zu sagen, es waren nur die USA. Aus Erfahrung wissen wir aber, dass die Russen Ähnliches getan haben.

Könnte es sein, dass Österreich auch ins Visier der US-Geheimdienste gekommen ist?

James Bamford: Ja, Österreich war das Herzstück der US-Geheimdienste während des Kalten Kriegs und ein Treffpunkt für Spione aus dem Osten und dem Westen. Es gibt immer noch viel Spannung dort, so dass die USA wissen wollen, was vor sich geht. Nicht, was intern politisch in Österreich passiert. Man ist interessiert daran, was sich die Botschaften in Wien gegenseitig sagen.

James Lewis: Das wird durch die Außenpolitik eines Landes bestimmt. Es ist nicht so, dass man alle willkürlich bespitzelt. Keiner, auch die Chinesen, haben die Kapazität, alles zu bespitzeln. Man muss also auswählen. Wenn die USA an Verkäufen deutscher Firmen für das iranische Atomprogramm interessiert sind, könnte das ein Grund für Bespitzelung sein. In Österreich können das einige der internationalen Organisationen dort sein oder Botschaften.

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