Nizza, die große Freiheit

Blick auf die Promenade des Anglais in Nizza
Der Strand von Nizza, das war für junge Leute einmal der Inbegriff von unendlicher Freiheit, ebenso wie unbeschwerte Reisen durch West-Europa – der Osten lag damals noch hinter dem Eisernen Vorhang. Terror gab es früher auch, aber keine Angst, davon betroffen zu sein.

Nizza, das war Freiheit, wie man sie nur als Student erleben kann. Mit wenig Geld aber viel Zeit, einem kleinen Rucksack und großen Plänen. Per Autostopp oder mit einem Interrail-Ticket erreichten wir die Cote d’Azur, spätestens an der italienischen Riviera weckte uns die milde Luft. Dann der erste Blick auf die Palmen, das schönste Klischee für den Süden. In billigen Lokalen, wo es Couscous gab, erfuhr ich, dass viele Maghrebiner in Südfrankreich wohnten und lernte viel über die jüngere Geschichte Frankreichs und Nordafrikas.

Meistens schlugen wir am Plage Opéra unser Lager auf. Die Steine wärmten sich am Tag so auf, dass man im Schlafsack dort herrlich nächtigen konnte, jedenfalls bis in der Früh die Flics auftauchten. Vom Strand unten konnte man die Reichen und ihre Symbole oben beobachten, das Hotel Negresco etwa, für uns damals in jeder Hinsicht unerreichbar, dafür sorgte der strenge Blick der uniformierten Portiere. Aber so glücklich wirkten die noblen Damen und Herren ohnehin nicht, wir hatten sicher mehr Spaß.

In den grausamen Bildern, die uns schon in der Nacht auf Freitag erreichten, war die berühmte Kuppel zu sehen. Dort war der Massenmörder in die Menge gerast, ohne zu überlegen, wem er das Leben nimmt. Der Terror, der uns immer öfter begegnet, bei dem wir schnell an islamistische Dschihadisten, an den IS denken, ist zunächst ohne Gesicht. Niemand kennt die Täter, von den Opfern erfahren wir erst Tage später, keiner der Betroffenen hatte einen Bezug zu den Tätern.

Damals, ohne Handys, hatten unsere Eltern nur eine ungefähre Vorstellung, wo wir gerade waren. Unsere Kinder können wir heute jederzeit und überall erreichen, nicht nur deshalb sind sie in keiner Weise so frei, wie wir waren.

Der Terror der Roten Armee Fraktion

Terror gab es auch damals. Wer Ende der 1970er-Jahre studiert hat, musste sich mit den Anschlägen der linksextremistischen Rote Armee Fraktion (RAF) beschäftigen, auch in Österreich. Im Herbst 1977 wurde Walter Michael Palmers entführt und nach rund 100 Stunden in Gefangenschaft gegen 31 Millionen Schilling frei gelassen. Die Täter standen in Kontakt zu deutschen Terroristen. Vor allem aber wurde auch an den Unis der "Mescalero" aus Göttingen diskutiert, jener Student, der nach der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback im Frühjahr 1977 schriftlich, aber anonym, "klammheimliche Freude" ausgedrückt hatte, Freude über den Tod eines Menschen. 2001 gab sich ein Deutschlehrer als damaliger "Mescalero" zu erkennen und erklärte, er habe sich später beim Sohn Bubacks entschuldigt. In den 1970er-Jahren wurde in linken Kreisen eben heftig darüber debattiert, ob Sympathie mit Terroristen legitim sei. Immerhin würden sie für eine gerechtere Gesellschaftsordnung kämpfen, hieß es zuweilen, wenn auch mit den falschen Mitteln. Noch in den 1980er-Jahren stritten die deutschen Grünen darüber, ob Gewalt gegen Sachen – etwa Atomtransporte – legitim sein könne. Es war der frühere RAF-Anwalt Otto Schily, der dies den Grünen im Sinne des Rechtsstaats schließlich austrieb.

Zweifellos gelang es der ersten Generation der RAF, bei Studenten und auch bei Intellektuellen Sympathien zu gewinnen. Dafür sorgte auch das ungehobelte Auftreten von Andreas Baader, der die Illusion wecken konnte, man habe Kontakt zur Kraft des Proletariats. Das Gegenteil war der Fall, die Arbeiter verachteten die Terroristen, diese wiederum nahmen keine Rücksicht, wen sie ermordeten. Wenn sie als Ziel ein Mitglied der "Schweinegesellschaft" ausgemacht hatten, war es ihnen auch recht, dass bei Anschlägen Fahrer, Polizisten oder Unbeteiligte sterben mussten. Die RAF wollte einen Bürgerkrieg, den Umsturz mit Waffengewalt und dann irgendeine andere Gesellschaft. Verrückt, aber so wurde das formuliert. Die Täter waren zum Teil bekannt und auch stolz darauf. Sie waren international vernetzt, agierten aber überwiegend in Deutschland.

Große Veränderung – keine Ängste

Der islamistische Terror, den wir heute ja nicht nur in Europa, sondern auch in der Türkei und in Afrika erleben, zeigt kaum ein Gesicht. Eine Organisation in Europa ist nicht zu erkennen, die Art der Rekrutierung läuft wohl über das Internet, Details sind nicht bekannt. Das Ziel, der weltweite islamistische Gottesstaat, klingt noch verrückter als jeder RAF-Bekennerbrief. Andererseits: Sympathisanten gibt es offenbar viel mehr, als sich die Linksextremisten je hätten erträumen können. Und klammheimliche Freude – die regt sich wohl auch bei manchen Muslimen, die sich permanent benachteiligt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen.

Die Gesellschaft der 1970er-Jahre war geordneter, enger, Grenzen waren nicht so leicht zu überwinden, auch zu anderen Staaten oder gar in den Ostblock. Aber unsere Hoffnungen und Erwartungen waren grenzenlos. Den 2. Weltkrieg, Hunger und Not kannten wir nur aus Erzählungen, Angst vor der Zukunft gar nicht. Der Wohlstand wuchs, kaum jemand verschwendete einen Gedanken darauf, dass es wieder einmal schlechter werden würde. Und der Terrorismus war zwar aufsehenerregend, aber nicht bedrohlich für die Entwicklung der Gesellschaft. Niemand hätte sein Verhalten verändert. Auch nicht, als im Sommer 1980 der Hauptbahnhof von Bologna in die Luft flog, dort, wo unsere Universität lag, wo wir oft angekommen sind. Die Terroristen von Bologna waren übrigens nicht die Roten Brigaden, sondern Neofaschisten mit Kontakten zum italienischen Geheimdienst, wie sich später herausstellte.

Die wahre Spaltung der Gesellschaft

Auch in Italien waren staatliche Ordnung und Demokratie nicht grundsätzlich in Gefahr. Heute hingegen verbreitet sich dieses Gefühl, ganz unterschiedlich und jeweils anders in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Das ist wohl der wahre Grund für das, was immer öfter unter dem Begriff "Spaltung der Gesellschaft" läuft, nicht nur in Österreich. Auf der einen Seite ist es ja nicht die Angst vor einem Terroranschlag, sondern vor einem Staat, wo der Islam immer präsenter, gar fordernd auftritt, erst recht, weil Muslime weiter zuwandern und auch mehr Kinder haben.

Auf der anderen Seite wird die Rückkehr zu einem Nationalismus befürchtet, der in seiner pervertierten Form im vorigen Jahrhundert Europa in den Abgrund gestürzt hat. Dazwischen beobachten immer mehr Menschen, wie Preise stärker steigen als Löhne, die Kinder viele Praktika machen, aber dennoch keine feste Arbeitsstelle bekommen, und die Wohnungen, die früher größer und schöner wurden, plötzlich zu teuer sind.

Für Verführer aller Art ist das eine herrliche Ausgangslage: Reale Unsicherheit trifft auf Schuldzuweisungen und große Versprechen. Göttliche Heilslehren weisen Irrwege aus dem irdischen Jammer oder der traurigen Bedeutungslosigkeit. Das Nizza der unbeschwerten Tage ist weit weg, egal, ob aus der Sicht der Reichen im Negresco oder von Studenten, die hoffentlich noch am Strand schlafen.

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