Afghanistan: Krieg gegen die Kinder
"Es war am Tag vor Ramadan, als die Taliban ins Dorf kamen. Mein Mann entschied, dass wir sofort gehen müssen, bevor sie anfingen, die afghanische Armee anzugreifen, die in der Nähe war. Ich hatte gerade ein Baby bekommen.
Wir gingen also los, Mann, Schwiegermutter, drei Kinder und ich mit dem Baby. Aber plötzlich landete eine Mörser-Granate neben uns. Ich flog auf den Boden, verletzt. Aber mein neugeborener Bub wurde von einem Splitter in die Brust getroffen. Nach ein paar Minuten war er tot."
Mit diesem Bericht einer jungen Frau aus der Provinz Farah beginnen die Vereinten Nationen einen der wichtigsten Jahresberichte zur Situation in Afghanistan. Der am Montag veröffentlichte Report zu den zivilen Opfern des afghanischen Krieges hat 111 Seiten. Er ist reich an Augenzeugenberichten, Statistiken und Kontext und illustriert so das Leiden von Kindern, Frauen und Männer, die im Kampf der islamistischen Taliban mit der afghanischen Regierung zwischen die Fronten geraten. Kurz gesagt: Das Leiden hat weiter zugenommen.
Interessant ist der Bericht aber auch, weil er über die Schicksale der Opfer die Dynamiken eines Krieges erklärt, der sich seit dem Abzug der meisten internationalen Truppen 2014 rapide verändert hat.
24 Prozent mehr getötete oder verletzte Kinder
Der schockierendste Trend im neuen Bericht: Der Krieg wird zum Krieg gegen die Kinder. Um 24 Prozent sei die Zahl der getöteten oder verletzten Kinder 2016 angestiegen. Das liege unter anderem daran, dass Kämpfe sich zunehmend in dicht besiedelten Gebieten abspielten.
Diese Luftangriffe, sagen Experten in Kabul, seien oft das einzige Mittel, die Taliban abzuwehren - was wiederum viel verrät über die Kapazitäten der afghanischen Streitkräfte, die ihren Krieg eigentlich nun alleine ausfechten sollen. Es erklärt auch, weshalb es, anders als früher, kaum Proteste der Regierung über zivile Opfer gibt.
Starke Zunahme bei Selbstmordanschlägen
Und noch ein wichtiger Trend: die Zunahme der Selbstmordanschläge. Drei Viertel aller Opfer gab es in der Hauptstadt Kabul. In 16 Anschlägen wurden 1.514 Zivilisten getötet oder verletzt. Das ist ein Anstieg von 75 Prozent gegenüber 2015.
Afghanische Regierung verlor Kontrolle über Provinzen
Erst vergangene Woche hat zum Beispiel der Spezialinspektor des US-Senats für den Wiederaufbau in Afghanistan, John Sopko, in seinem vierteljährlichen Bericht deutlich gemacht, wie schnell die afghanische Regierung 2016 die Kontrolle über Provinzen verloren hat. Nur noch 57,2 Prozent des Territoriums seien in ihrer Gewalt - rund sechs Prozent weniger als noch im August und 15 Prozent weniger als 2015.
OCHAs Fallstudien zeigen, wie sehr auch die unblutigen Faktoren des Krieges Leben gefährden können - die vielen Straßenblockaden der Taliban zum Beispiel. Wer nicht zum Markt kann, kann sein Gemüse nicht verkaufen. Hat so kein Geld für Essen oder den Arzt. Begräbt deshalb Kinder am Ende eines Winters, wenn die Erde taut.
Nach tagelangem heftigen Schneefall waren am Wochenende im ganzen Land zahlreiche Lawinen abgegangen. Sie begruben ganze Dörfer unter sich und machten viele Straßen unpassierbar. Nur mit Mühe gelang es den Rettungsteams, zu den abgelegeneren Gebieten vorzudringen. Sie rechneten damit, dass die Zahl der Opfer weiter ansteigen wird.
Dramatisch war auch die Lage in der benachbarten Provinz Badahshan. Dort wurden 18 Menschen getötet, deren Häuser von einer Lawine verschüttet worden waren. Dutzende weitere waren demnach noch von den Schneemassen eingeschlossen. Die Rettungsteams bemühten sich, zu ihnen vorzudringen. In der nördlich von Kabul gelegenen Provinz Parwan kamen mindestens 16 Menschen ums Leben.
Selbst aus der üblicherweise schneefreien Provinz Kandahar im Süden Afghanistans wurde Schneefall gemeldet. Die afghanische Regierung erklärte den Sonntag zum Urlaubstag, alle Schulen des Landes blieben daraufhin geschlossen.
Im Stammesgebiet Khyber starben drei Kleinkinder und zwei Frauen wurden verletzt, als das Dach ihres Hauses nach heftigem Regen über ihnen einstürzte.
In der Provinz hatte es zuvor tagelang heftig geschneit. Einige Gebiete waren von einer 1,20 Meter hohen Schneedecke bedeckt. Viele Straßen waren blockiert, der Regionalflughafen von Chitral musste seinen Betrieb einstellen, in der gesamten Region fiel der Strom aus. In den am schwersten betroffenen Orten wurden Nahrung und Arzneimittel knapp.
Tödliche Lawinen sind in den bergigen Regionen Afghanistans und Pakistans keine Seltenheit. Besonders in Afghanistan scheitern Rettungseinsätze oft an mangelnder Ausrüstung. Trotz Milliarden Dollar an Hilfsgeldern seit dem Sturz der radikalislamischen Taliban im Jahr 2001 bleibt das konfliktgeplagte Land eines der ärmsten der Welt. Erst im Jänner waren im Norden Afghanistans 27 kleine Kinder bei klirrender Kälte und heftigem Schneefall ums Leben gekommen.
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