Flüchtlinge dürfen in ihre Wohnungen zurück

Einwohner, die vor Wochen aufgefordert wurden ihre Häuser zu verlassen, dürfen nun wieder in zurück
Die Einwohner von Beit Lahiya sollen sich aber vor Sprengkörpern in Acht nehmen.

Israel hat palästinensischen Flüchtlingen aus Beit Lahiya im Norden des Gazastreifens zugesichert, dass sie am Samstag in ihre Wohnungen zurückkehren könnten. Den Einwohnern werde aber geraten, sich vor Sprengkörpern in Acht zu nehmen, die von der radikal-islamischen Hamas über das Gebiet verteilt worden seien, teilte das israelische Militär in Jerusalem weiter mit.

In Beit Lahiya leben etwa 70.000 Menschen. Viele waren vor den Kämpfen zwischen den israelischen Streitkräften und der Hamas geflohen.

Hamas dementiert Entführung

Nach dem Scheitern einer Waffenruhe haben die israelischen Streitkräfte ihre Angriffe im Gazastreifen intensiviert. Die Militäreinsätze konzentrierten sich in der Nacht auf Samstag auf die südliche Stadt Rafah. Dort suchten Soldaten weiter nach einem ihrer Kameraden, der nach israelischen Angaben von einem Kommando der radikal-islamischen Hamas entführt wurde. Die Hamas bestreitet das.

Trotz der neuen Auseinandersetzungen kündigte die Palästinensische Autonomiebehörde an, am Samstag eine Delegation zu Verhandlungen über eine Beruhigung der Lage in die ägyptische Hauptstadt Kairo zu entsenden. Israel wird nach eigenen Angaben nicht bei den Gesprächen teilnehmen.

Unterdessen hat die israelische Armee einen Luftangriff auf die Islamische Universität in Gaza geflogen. Das bestätigte eine israelische Militärsprecherin am Samstag. Ziel sei ein mutmaßliches Waffenlabor in einem Universitätsgebäude gewesen, schrieb die Armee auf Twitter. Die Hochschuleinrichtung gilt als der Hamas nahestehend.

Tag für Tag im Gaza-Konflikt

Entführung des Soldaten Goldin

Der 23-jährige Leutnant Hadar Goldin fiel nach Angaben des israelischen Militärs einem Hamas-Kommando in die Hände, als seine Einheit an der Zerstörung eines Tunnels in den Gazastreifen arbeitete. Der Armee zufolge ereignete sich die Entführung Freitagfrüh eineinhalb Stunden nach Beginn einer dreitägigen humanitären Waffenruhe, die die Vereinten Nationen und die USA zuvor zwischen Israel und radikalen Palästinensern vermittelt hatten. Als Reaktion darauf erklärte Israel die Feuerpause für gescheitert.

Der bewaffnete Arm der Hamas, die Al-Kassam-Brigaden, bestritt in der Nacht auf Samstag, den Soldaten entführt zu haben. "Wir wissen nichts über einen vermissten Soldaten, seinen Verbleib oder die Umstände seines Verschwindens", hieß es in einer Mitteilung, die an Journalisten versandt wurde. Nach einer Meldung der palästinensischen Nachrichtenagentur Ma'an hatten die Al-Kassam-Brigaden zuvor noch bestätigt, Goldin gefangen genommen zu haben.

Die jüngsten Angaben widersprachen auch Medienberichten, in denen es unter Berufung auf eine Mitteilung der Al-Kassam-Brigaden hieß, die Gruppe vermute, der seit einem Überfall vermisste Soldat und seine mutmaßlichen Entführer seien bei israelischen Angriffen ums Leben gekommen. "Wir haben den Kontakt zu den an dem Überfall beteiligten Kämpfern verloren, und wir vermuten, dass sie alle bei dem Bombardement getötet wurden", zitierte etwa die israelische Zeitung Haaretz aus der Mitteilung. Dabei sei wohl auch der Soldat ums Leben gekommen.

Überfall vor Beginn der Feuerpause

Osama Hamdan, ein Hamas-Sprecher in Katar, sagte dem US-Sender CNN, der Überfall habe sich vor Beginn der Waffenruhe ereignet. Ihm lagen nach eigenen Angaben bisher keine Informationen über den verschwundenen Soldaten vor. Er wies darauf hin, dass Goldin möglicherweise von "irgendeiner anderen Organisation" gefangen genommen worden sei.

Zuletzt war 2006 der Soldat Gilad Shalit von einem Kommando unter Leitung der Hamas durch einen Tunnel in den Gazastreifen verschleppt worden. Er kam erst mehr als fünf Jahre später frei - im Tausch gegen mehr als 1.000 palästinensische Häftlinge.

Der neue Vorfall droht den aktuellen Konflikt weiter anzuheizen. Bis Mitternacht starben nach Angaben des Sprechers des palästinensischen Gesundheitsministeriums, Ashraf al-Kidra, mindestens 104 Palästinenser. Allein in der Nacht auf Samstag seien bei mehreren israelischen Luftangriffen in Rafah 29 Menschen gestorben, darunter 15 Mitglieder einer Familie. Zwei israelische Soldaten starben bei Gefechten mit Hamas-Kämpfern.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hatte am Freitag eine harte Reaktion angekündigt. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zeigte sich nach dem Scheitern der Waffenruhe "schockiert und zutiefst enttäuscht über die Entwicklung". Er befürchtete "ernste Folgen für die Menschen in Gaza, in Israel und darüber hinaus". Die USA forderten die bedingungslose Freilassung des Soldaten.

Israel nicht in Kairo vertreten

Israel wird nach Angaben aus Regierungskreisen am Samstag keine Vertreter zu den Verhandlungen in Kairo über eine Beendigung der Kämpfe im Gazastreifen entsenden. Ein Vertreter der Regierung warf der radikal-islamischen Hamas zugleich vor, sie führe internationale Vermittler in die Irre. "Hamas ist an einer Beilegung nicht interessiert", sagte der Regierungsvertreter.

Ursprünglich hatte Israel seine Teilnahme an den Verhandlungen in der ägyptischen Hauptstadt zugesagt. Das war jedoch, bevor am Freitag eine maßgeblich von Ägypten vermittelte dreitägige Feuerpause keine zwei Stunden nach ihrem Beginn gescheitert war. Israel machte dafür Hamas-Kämpfer verantwortlich, die Soldaten aus einem Tunnelsystem heraus angegriffen hatten.

In Kairo wurden am Samstag Vertreter verschiedener palästinensischer Organisationen zu Gesprächen erwartet. Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi hatte am Vormittag deutlich gemacht, dass er die Verhandlungen nicht verloren glaubt. "Verlorene Zeit macht die Situation immer komplizierter", sagte Al-Sisi vor Journalisten in Kairo.

Die Lage der Zivilbevölkerung im dicht besiedelten Gazastreifen ist laut UN-Palästinenserhilfswerk (UNRWA) katastrophal. Die Zahl der seit dem 8. Juli getöteten Menschen im Gazastreifen ist nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums bis Samstagfrüh auf 1.610 gestiegen. Auf israelischer Seite wurden im Gaza-Krieg mindestens 63 Soldaten und drei Zivilisten getötet. Militante aus dem Gazastreifen feuerten am Freitag mindestens acht Geschoße auf Israel ab. Drei wurden von der Raketenabwehr abgefangen, die anderen landeten auf freiem Feld.

USA finanziert "Iron Dome"

Unterdessen hat der US-Kongress hat grünes Licht für die finanzielle Unterstützung der israelischen Raketenabwehr in Höhe von 225 Millionen Dollar (167,97 Mio. Euro) gegeben. Das Repräsentantenhaus in Washington stimmte am späten Freitagabend mit 395 zu acht Stimmen für die Ausstattung des Systems "Iron Dome" (Eiserne Kuppel). Der Senat hatte bereits vor dem Beginn seiner Sommerpause zugestimmt. Nun steht noch die Unterschrift von US-Präsident Barack Obama aus.

Mit dem Geld soll "Iron Dome" wieder mit ausreichend Abfangraketen ausgestattet werden. Das System soll aus dem Gazastreifen abgeschossene Raketen erkennen und sie zerstören, bevor sie ihr Ziel in Israel erreichen.

Die palästinensischen Angreifer tauchten aus einem der von Israel gefürchteten "Terror-Tunnel" auf. Israelische Soldaten bereiteten gerade den unterirdischen Gang im südlichen Gazastreifen zur Sprengung vor. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Ein Selbstmordattentäter sprengte sich nach israelischen Medien in der Nähe der Truppen in die Luft. Zwei Soldaten wurden getötet, einer entführt.

Offenbar in der allgemeinen Verwirrung verschleppten die militanten Palästinenser den 23-jährigen Offizier Hadar Goldin, der nach Medienberichten auch britischer Staatsbürger ist. Die tagelang mühevoll von UN und USA ausgehandelte humanitäre Feuerpause in dem Palästinensergebiet, die der leidenden Bevölkerung ein Atempause verschaffen sollte, war mit dem neuen Zwischenfall hinfällig. Israels Armee bombardierte danach in aller Härte die nahe gelegene Palästinenserstadt Rafah, die Rettungskräfte berichteten von Dutzenden Toten.

"Wenn wir den Soldaten nicht binnen weniger Stunden zurückbekommen, werden wir Gaza plattmachen", sagte Danny Danon von der regierenden Likud-Partei der Nachrichtenseite "ynet". Er hatte allerdings unmittelbar vor der Bodenoffensive wegen radikaler Äußerungen das Amt des Vize-Verteidigungsministers verloren.

Kollektives Trauma 2006

Dennoch spiegeln seine Äußerungen die Stimmung von Wut und Verzweiflung in Israel wider. Mit der ersten Entführung eines Soldaten durch militante Palästinenser seit 2006 ist für den jüdischen Staat ein Albtraum wahr geworden. Die Armeeführung hatte den Soldaten seit Beginn der Offensive am 8. Juli immer wieder eingebläut, alles zu unternehmen, um eine Gefangennahme durch Hamas-Kämpfer zu verhindern.

Die Entführung des Soldaten Gilad Shalit ist für Israelis noch eine Art kollektives Trauma. Mehr als fünf Jahre war er in der Gewalt der im Gazastreifen herrschenden Hamas. Nach jahrelangen Verhandlungen mit deutscher Vermittlungshilfe kam der junge Mann schließlich 2011 frei. Der Preis war für Israel jedoch schmerzhaft hoch: Mehr als tausend palästinensische Häftlinge musste es im Tausch für ihn freilassen.

Angesichts heftiger öffentlicher Kritik an dem Tauschhandel will Israels Regierung im Parlament ein Gesetz durchsetzen, das die künftige Freilassung von Terroristen wie im Fall Shalit verhindern soll. Das Parlament billigte vor einigen Tagen zudem ein Gesetz, das eine Wiederverhaftung freigelassener "rückfälliger Terroristen" erleichtern soll. "Dies ist ein Weg, mit der Drohung von Entführungen umzugehen", sagte Seev Elkin von der regierenden Likud-Partei der "Jerusalem Post". Das Gesetz solle als Abschreckung für potenzielle Entführer dienen.

Entführung wird gefeiert

Für die militanten Palästinensergruppen im Gazastreifen ist das neue Kidnapping allerdings ein großer Erfolg, der auch in den sozialen Netzwerken gefeiert wurde. Sie hatten schon seit Wochen alles daran gesetzt, durch Tunnel israelische Soldaten oder Zivilisten zu töten oder zu entführen. Bei mehreren Anschlägen gab es zwar israelische Tote, die versuchte Verschleppung einer Leiche bei einem Überfall auf einen Militärposten in Grenznähe wurde jedoch verhindert.

Kurz nach dem höchst umstrittenen Tauschhandel 2011 schrieb ein Kommentator der Zeitung "Haaretz": "Nach der Entführung von Shalit sehen einige israelische Offiziere einen toten Soldaten als besser an als einen entführten." Das Militär habe nach dem Vorfall das umstrittene sogenannte "Hannibal-Protokoll" in einer überarbeiteten Form wieder eingeführt. Kommandanten sollen demnach bei einer befürchteten Entführung alles unternehmen, um sie zu vereiteln, selbst wenn es das Leben des Soldaten in Gefahr bringt.

Generalstabschef Benny Ganz betonte, das Protokoll erlaube es nicht, einen Soldaten gezielt zu töten, um seine Verschleppung zu verhindern. Ein Kommandant sagte dem linksliberalen Blatt allerdings, er habe seine Soldaten angewiesen, bei einem Entführungsversuch auf Terroristen zu schießen, selbst wenn sie dabei ihren Kameraden treffen könnten. "Die Botschaft ist, dass kein Soldat in Gefangenschaft geraten darf, und es ist eine eindeutige Botschaft."

Das "Hannibal-Protokoll", auch "Hannibal-Direktive" genannt, ist nach israelischen Medienberichten eine inoffizielle Weisung der Armee. Sie hält demnach Offiziere dazu an, eine Entführung ihrer untergebenen Soldaten "mit allen Mitteln" zu vereiteln - auch wenn dabei das Leben des Verschleppten gefährdet wird.

Zu hoch ist der Preis, den Israel im Fall einer Entführung zahlen müsste. Im bekanntesten Beispiel ließ Israel rund 1.000 palästinensische Gefangene frei - im Gegenzug entließ die im Gazastreifen herrschende Hamas den verschleppten Soldaten Gilad Shalit aus der Geiselhaft.

Das "Hannibal-Protokoll" soll derartige Deals verhindern. Nach Medienberichten soll es im Jahr 1986 von drei israelischen Offizieren formuliert worden sein. Demnach soll es erlaubt sein, die Entführer mit Handfeuerwaffen zu attackieren. Sollte der Soldat in ein Fahrzeug verschleppt worden sein, werde "alles getan", um es an der Weiterfahrt zu hindern.

In den 1990er-Jahren wurde die Direktive aufgehoben, nach dem Fall Shalit aber - in abgeänderter Form - wieder in Kraft gesetzt, wie israelische Medien berichteten. So hieß es, Kameraden dürften nur auf die Räder des Fluchtwagens zielen - nicht aber auf das Auto selbst. Soldaten einiger Bataillone berichteten allerdings, ihre Offiziere hätten sie angewiesen, die Direktive weiterhin in ihrer ursprünglichen Form zu befolgen.

Auch im aktuellen Gaza-Krieg könnte das "Hannibal-Protokoll" zur Anwendung kommen. Die Angriffe der Armee konzentrierten sich auf die Gegend um Rafah - offenbar um zu verhindern, dass der am Freitag entführte Hadar Goldin ins Hinterland verschleppt wird.

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