Nach "Völkermord"-Sager: Ankara schwer verstimmt

Karin Karakasli: „Die Türkei ist allergisch auf das Wort Genozid“
Armenisch-türkische Journalistin über die Hintergründe und das Zusammenleben heute.

Nach dem Statement von Papst Franziskus, wonach die Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich ab 1915 der erste "Völkermord" im 20. Jahrhundert gewesen sei, gehen die Wogen hoch in der Türkei. Premierminister Ahmet Davutoglu nannte die Aussagen "falsch und widersinnig". Sie "tragen zum steigenden Rassismus in Europa bei", weil Muslime und Türken kollektiv beschuldigt würden. Ankara hat den Vertreter des Vatikan ins Außenamt zitiert, der türkische Botschafter beim Heiligen Stuhl wurde in die Heimat zurückbeordert.

"Die Türkei ist allergisch auf das Wort ,Genozid’ und reagiert immer empört – vor allem wenn eine wichtige Persönlichkeit von Völkermord spricht. Der Papst vertritt immerhin 1,2 Milliarden Katholiken", sagt Karin Karakasli, Co-Chefredakteurin der armenisch-türkischen Wochenzeitung AGOS, im KURIER-Gespräch. Ankara verleugne die Fakten und verbreite Lügen über die Geschehnisse von damals, so die armenische Türkin, die auf Einladung der entwicklungspolitischen NGO VIDC in Wien war.

Wobei die Sichtweisen sehr unterschiedlich sind: Die Türkei spricht von einigen Hunderttausenden Toten, die im Zuge der Wirren des Ersten Weltkrieges und danach ums Leben gekommen seien; die Armenier trauern um 1,5 Millionen Angehörige ihrer Volksgruppe, die umgebracht oder bei Gewaltmärschen bewusst in den Tod getrieben worden seien.

Am 24. April begehen die Armenier den 100. Jahrestag des Beginns dieses dunklen Kapitels: Damals wurden armenische Intellektuelle, Politiker und Kaufleute aus Istanbul deportiert. Just um dieses Datum hat Ankara die 100-Jahrfeiern anlässlich des Sieges über die Entente-Mächte (Frankreich, Großbritannien, Russland) in Gallipoli angesetzt – der Triumph auf dem Schlachtfeld gilt als Geburtsstunde der neuen Türkei. "Die politische Strategie dahinter ist klar: Das ist ein reines Ablenkungsmanöver", sagt Karin Karakasli.

Sie wirft der Türkei vor, die vor Jahren eingeleitete zarte Annäherung an das heikle Thema niemals ernst genommen zu haben. So sei etwa aus der geplanten gemeinsamen Historiker-Kommission zur Aufarbeitung der Geschehnisse von einst nichts geworden.

"Wirkt bis heute nach"

"Aber genau das würden wir brauchen, da die Ausblendung der Geschichte bis heute nachwirkt: Weil die Massaker von damals nicht anerkannt werden, war es möglich, dass auf dem Höhepunkt des Kurdenkonfliktes in der Türkei wieder Massaker verübt werden konnten." Ankara müsse sich dieser Verantwortung aus der osmanischen Zeit stellen, zumal sich Präsident Erdogan in seiner Art, Politik zu betreiben, ohnehin immer direkter auf diese Epoche beziehe.

Und wie lebt es sich als Teil einer 60.000 Menschen umfassenden Minderheit im 75-Millionen-Einwohner-Land Türkei? "Im Alltag passieren in der Regel keine dramatischen Dinge, aber wir Armenier werden nach wie vor als innere Feinde betrachtet und als solche auch in Schulbüchern beschrieben", so die Journalistin. Wie Kurden oder Aleviten seien die Armenier keine gleichberechtigten Staatsbürger. Was Karakasli besonders bedrückt: "Dass wir von einem Volk mit zwei bis 2,5 Millionen Menschen zu so einer kleinen Gemeinde reduziert wurden. Nur mit großer Mühe gelingt es, unsere Kultur und Identität zu wahren."

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