Merkel will trotz Schulz-Absage mit der SPD sprechen

Bundeskanzlerin Merkel stellt die Weichen für Koalitionsverhandlungen. CDU und CSU wollten nicht nur mit der FDP und den Grünen, sondern auch mit der SPD in Kontakt bleiben.

Einen Tag nach der Bundestagswahl hat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel erste Weichen für die Bildung einer neuen Regierung gestellt. Die CDU-Chefin bot am Montag in Berlin FDP und Grünen sowie der SPD Gespräche an. Die SPD-Spitze bekräftigte ihre Oppositionsansage und nominierte Arbeitsministerin Andrea Nahles zur neuen Fraktionschefin. Bei der AfD eskalierte indes der Führungsstreit.

Bei CDU und CSU bahnte sich unterdessen ein Richtungsstreit über die Flüchtlingspolitik an. CSU-Chef Horst Seehofer forderte mit Blick auf das Erstarken der rechtspopulistischen AfD eine stärkere Ausrichtung nach rechts, was die CDU-Spitze ablehnt. FDP und Grüne bekräftigten grundsätzlich ihre Bereitschaft zu einem Jamaika-Bündnis mit der Union. Bei der AfD kam es zu einem Eklat. Parteichefin Frauke Petry erklärte aus Protest gegen den Rechtskurs der Spitzenkandidaten Alexander Gauland und Alice Weidel, der AfD-Fraktion nicht angehören zu wollen.

SPD hat sich früh auf Opposition festgelegt

"Wir werden natürlich das Gespräch suchen, sowohl mit der FDP als auch mit den Grünen. Aber ich füge hinzu: auch mit der SPD", sagte Merkel in Berlin. "Ich habe die Worte der SPD vernommen, trotzdem sollte man im Gesprächskontakt bleiben." Es sei wichtig, dass Deutschland eine stabile Regierung bekomme. Zur Möglichkeit von Neuwahlen sagte die Kanzlerin: "Ich rate jedem zu beachten, (...) ein Wählervotum als ein Wählervotum zu nehmen. Jedes Spekulieren auf irgendeine Neuwahl ist das Nicht-Achten eines Wählervotums." Jeder müsse sich überlegen, was das für ihn bedeute. Sie sei da sehr klar: "Wenn der Wähler uns einen Auftrag gibt, dann haben wir den umzusetzen."

SPD-Chef Martin Schulz wies das Angebot Merkels kühl zurück. "Wenn sie mich anrufen will, soll sie mich anrufen", sagte er. Sie solle aber "ihre Zeit besser für andere Anrufe nutzen". Die SPD werde nämlich "in keine Große Koalition eintreten". Schulz sagte, dass Arbeitsministerin Nahles den Vorsitz der SPD-Fraktion übernehmen solle. Sie solle am Mittwoch von den 153 Abgeordneten gewählt werden.

Vorbehalte gegenüber Jamaika

Trotz starker Verluste hielt die Union bei der Wahl am Sonntag die Stellung der stärksten Partei, Merkel kann somit Kanzlerin bleiben. Die SPD stürzte auf ein historisches Tief. Einzig rechnerisch mögliche Koalition ist daher ein Jamaika-Bündnis aus Union, FDP und Grünen. Die FDP zieht nach vier Jahren Abwesenheit mit gut zehn Prozent wieder in den Bundestag. Die rechtspopulistische AfD kam auf 12,6 Prozent der Stimmen.

FDP-Chef Christian Lindner, der am Montag zum Fraktionschef der Liberalen gewählt wurde, will eine Beteiligung an der Regierung von einem Politikwechsel abhängig machen. "Wir lassen uns nicht in eine Regierung zwingen, deren politische Koordinaten wir nicht gutheißen können", sagte Lindner in Berlin. Mit den Grünen gebe es bei allen Differenzen etwa in der Flüchtlings- und Energiepolitik auch Gemeinsamkeiten. Dies gelte bei der Frage einer Reform des Bildungsföderalismus, bei den bürgerlichen Freiheitsrechten und beim Glasfaserausbau. Er bekräftigte zugleich, die FDP werde keinem Budget der Eurozone zustimmen, der zu einem Finanzausgleich in Europa führe.

Die Grünen zeigten sich offen für Zugeständnisse. "Wir werden alle Kompromisse machen müssen", sagte Parteichef und Spitzenkandidat Cem Özdemir vor Beratungen des Bundesvorstandes. Es liege nun an der Union, zu Sondierungen einzuladen. Aus Sicht der Grünen müssten Fortschritte beim Klimaschutz und in der Frage der sozialen Gerechtigkeit erreicht werden. Wichtig sei auch ein pro-europäischer Kurs der künftigen Regierung.

Desaster für CSU

Neben der CDU musste vor allem auch die CSU in Bayern starke Verluste hinnehmen. Sie kam nur noch auf 38,8 Prozent nach 49,3 Prozent bei der Bundestagswahl 2013. Die AfD erreichte 12,4 Prozent. Entsprechend groß ist die Sorge bei den Christsozialen mit Blick auf die Landtagswahl im nächsten Jahr. In der Union bahnt sich nun ein Streit darüber an, wie mit der AfD vor allem in der Flüchtlingspolitik umzugehen ist. "Uns geht es um einen klaren Kurs Mitte-Rechts für die Zukunft", sagte CSU-Chef und Ministerpräsident Horst Seehofer in München. "Es geht auch darum, den Gesamtkurs der Union zu diskutieren und festzulegen."

Die CDU-Spitze lehnt eine Kursänderung dagegen ab. "Ich bin mir sicher, wir brauchen keinen Ruck nach rechts", sagte CDU-Vize Julia Klöckner. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) verwies darauf, dass CDU-Landesverbände, die den Kurs Merkels unterstützten, weniger Stimmen verloren hätten als Kritiker der Kanzlerin. Zu einem Jamaika-Bündnis, das in Schleswig-Holstein regiert, äußerte er sich positiv.

Juncker fordert Stabilität

Die EU-Kommission forderte ein verlässliche Regierung in Berlin. "Angesichts großer globaler Herausforderungen braucht Europa jetzt mehr denn je eine stabile Bundesregierung, die tatkräftig an der Gestaltung unseres Kontinents mitwirkt", schrieb Präsident Jean-Claude Juncker in einem Brief an Merkel. Auch die deutsche Wirtschaft fürchtet eine langwierige Regierungsbildung. Das könnte das Land bei dringenden Zukunftsaufgaben wie der Behebung des Fachkräftemangels und der Digitalisierung bremsen, warnten Lobbyverbände. Sorge bereitet auch das Abschneiden der AfD. "Die AfD im Deutschen Bundestag schadet unserem Land", sagte Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer.

Noch vor ihrer Konstituierung droht der AfD-Fraktion allerdings bereits die Spaltung. Co-Parteichefin Petry sagte am Morgen bei einer Pressekonferenz mit den Parteispitzen in Berlin: "Ich habe entschieden, dass ich der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag nicht angehören werde, sondern vorerst als Einzelabgeordnete in diesem Bundestag sitzen werde." Danach verließ sie die geplante Pressekonferenz mit Co-Parteichef Jörg Meuthen sowie den Spitzenkandidaten Alexander Gauland und Alice Weidel. Petry hatte bei der Wahl ein Direktmandat errungen und als AfD-Vorsitzende von Sachsen das beste Landesergebnis für die Partei verbucht.

Merkel verteidigt Flüchtlingskurs

Auch ihre Entscheidung aus dem September 2015 zur Aufnahme hunderttausender Flüchtlinge in Deutschland rechtfertigte die Kanzlerin erneut. Gleichzeitig kündigte sie an, besonders die zur AfD abgewanderten Wähler wieder zurückgewinnen zu wollen durch eine "gute Politik" und durch die "Lösung von Problemen".

Besonders in Sachsen, wo die AfD stärkste Partei wurde, sieht Merkel "erhebliche Arbeit" auf sie zukommen. Als Problemfelder, die sie nun verstärkt beackern will, nannte die CDU-Chefin Probleme bei Integration und illegaler Migration, aber auch die ärztliche Versorgung auf dem Land oder die Zukunftsaussichten von Landwirten. Es gebe "viele, viele Ursachen" für die von Wählern der AfD zum Ausdruck gebrachte Protesthaltung, sagte Merkel.

Schulz schwört SPD auf Opposition ein

Indes hat SPD-Chef Martin Schulz seine Partei nach der schweren Niederlage auf einen Neustart in der Opposition eingeschworen. "Wir beginnen eine neue Saison", sagte Schulz am Montag in Berlin. Die SPD werde sich nicht "wegducken" und das Wahlergebnis als Auftrag begreifen, "eine starke Opposition in diesem Land zu sein".

Die Sozialdemokraten würden in dieser neuen Rolle die Debatte um die Zukunft des Landes führen und die Demokratie angesichts des Einzugs der AfD in den Bundestag verteidigen, erklärte Schulz. Ziel sei, aus der Opposition heraus Deutschland "besser und gerechter" zu machen - in Zukunft dann auch wieder mit einer sozialdemokratisch geführten Regierung.

Die SPD werde in den Gremiensitzungen am Montag beraten, "wie wir mit dieser neuen Rolle umgehen", sagte der Parteichef.

Bei der Bundestagswahl war die CDU/CSU auf nur noch 33 Prozent gekommen, die SPD stürzte auf 20,5 Prozent ab. Dagegen wurde die AfD mit 12,6 Prozent drittstärkste Kraft vor der FDP mit 10,7 Prozent, der Linkspartei mit 9,2 Prozent und den Grünen mit 8,9 Prozent. In Sachsen wurde die AfD mit 27,0 Prozent stärkste Kraft, in den vier anderen ostdeutschen Bundesländern kam sie nach der CDU auf Platz zwei.

Wahl in Deutschland: Verluste für große Koalition

Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim sagte am Montag mehreren Fernsehsendern, man müsse ein "neues Kapitel" aufschlagen und die Beziehungen zwischen beiden Ländern "reparieren". Merkel habe erkannt, dass Streit mit der Türkei keine Stimmen gebracht habe. "Wer hat gewonnen? Die Rassisten haben gewonnen." Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nannte das deutsche Wahlergebnis "eine Lehre", ohne das näher auszuführen.

Yildirim sagte, notwendig für eine Normalisierung sei jedoch ein härteres Vorgehen der Bundesregierung gegen Anhänger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Gülen-Bewegung. Die türkische Regierung wirft Deutschland die Unterstützung von Terroristen vor. Die deutsche Bundesregierung fordert bisher erfolglos die Freilassung von Deutschen wie dem "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel, die aus politischen Gründen inhaftiert wurden.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bezeichnete Merkels vierten Wahlsieg als "historisch". "Angesichts großer globaler Herausforderungen braucht Europa jetzt mehr denn je eine stabile Bundesregierung, die tatkräftig an der Gestaltung unseres Kontinents mitwirkt", heißt es in einer Erklärung Junckers. Er rief angesichts des Wahlerfolgs der AfD zugleich dazu auf, den Argumenten der Populisten die Stirn zu bieten und Europa besser zu erklären.

Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hob ebenfalls Merkels Rolle in Europa hervor. "Wir werden unsere Zusammenarbeit, die unentbehrlich für Europa und unsere Länder ist, entschlossen fortführen", schrieb Macron auf Twitter. In Paris warnten Kommentatoren, dass es Macron bei seinen ehrgeizigen Plänen zur Reform der EU nun schwerer haben könnte, weil Merkel geschwächt sei und ihr möglicher Koalitionspartner FDP sich querstellen könnte. Am morgigen Dienstag stellt Macron seine EU-Pläne vor.

Auch die nordeuropäischen Staaten setzen weiter auf Merkel. "Wir brauchen Stabilität in Europa. Freue mich auf Zusammenarbeit", twitterte der dänische Regierungschef Lars Lökke Rasmussen. Norwegens konservative Regierungschefin Erna Solberg schrieb, Merkels Wahlerfolg sei "gut für Europa". Schwedens sozialdemokratischer Regierungschef Stefan Löfven erklärte: "Wir müssen für ein starkes und demokratisches Europa zusammenarbeiten." In Österreich gratulierten Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) und Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) Merkel zum Wahlsieg.

Freude herrscht bei Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu über Merkels Wahlsieg. Er nannte die Kanzlerin "eine wahre Freundin Israels." Yair Lapid, israelischer Oppositionspolitiker von der Zukunftspartei, erklärte, Merkels Stimme und die anderer Gemäßigter wird entscheidend sein, "um dem Aufstieg der extremen Rechten entgegen zu treten".

In Polen wurde Merkels Wahlsieg verhalten positiv aufgenommen. Polens nationalkonservative Regierung sieht in der AfD unter anderem wegen ihrer Russlandfreundlichkeit keine Alternative zu Merkel. Konrad Szymanski, Staatssekretär im Außenministerium, sagte, Warschau werde sich möglicherweise mit der neuen deutschen Regierung in vielen Fragen der EU-Politik einig sein, etwa in Bezug auf den Umgang mit Russland und "sogar" in Fragen der Migration.

Der Kreml hielt sich mit einer Einschätzung zur Bundestagswahl zurück. Merkel habe zwar die Wahl gewonnen, aber die Regierungsbildung stehe noch bevor, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow in Moskau. "Wir werden das sehr aufmerksam verfolgen", sagte er der Agentur Interfax zufolge. Erst nach einer genauen Analyse werde sich Präsident Wladimir Putin äußern. Peskow bekräftigte, Deutschland sei ein sehr wichtiger Wirtschaftspartner Russlands.

Der russische Deutschland-Experte Wladislaw Below hat registriert, dass Merkel seit ihrem Russland-Besuch im Mai positiv oder neutral in den Medien dargestellt wurde. Below vermutet dahinter eine klare Weisung an die kremlgelenkten Medien, wie er der Deutschen Presse-Agentur sagte. Der Politologe Fjodor Lukjanow wies auf Befürchtungen in Moskau hin, sollten die Grünen den Außenminister stellen. Die Grünen hätten in vielen Themen mit Russland-Bezug eine sehr kritische Haltung, sagte der als kremlnah geltende Experte.

Die Ukraine freut sich hingegen offen über Merkels Wahlerfolg. Dieser bringe die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine und ihre Zukunft in einem vereinten Europa näher, schrieb Präsident Petro Poroschenko bei Twitter. Der prowestliche Staatschef nannte Merkel einen "Anker für Frieden und Stabilität in Europa".

Mit Argusaugen blicken die Griechen auf den Wahlausgang in Deutschland. Aus Regierungskreisen sickerte an die Presse durch, man habe mit diesem Ergebnis gerechnet. Im Falle der Jamaika-Koalition macht sich Athen Sorgen über euroskeptische Stimmen aus der FDP, hofft aber auf einen Ausgleich durch die Grünen, die einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone ablehnen.

Von der US-Regierung gab es keine schnelle Reaktion auf den Wahlausgang in Berlin. Alle wesentlichen Medien konzentrierten sich auf die AfD zum einen und die große internationale Erfahrung Merkels andererseits. Mit US-Präsident Donald Trump liegt die Kanzlerin bei vielen Themen allerdings über Kreuz.

Strache geht auf Distanz

Neben der Sorge in vielen europäischen Hauptstädten gab es auch Jubel über den Erfolg der AfD. "Das ist ein neues Symbol des Erwachens der europäischen Völker", schrieb die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen auf Twitter. Auch FPÖ-Politiker begrüßten das AfD-Abschneiden. Parteichef Heinz-Christian Strache ging zugleich vorsichtig auf Distanz zur rechtspopulistischen Partei und erklärte, dass sich diese "noch viel an interner Bereinigung und Geschlossenheit vor sich" habe.

Der tschechische Ex-Präsident Vaclav Klaus erklärte, der AfD-Erfolg sei ein "Impuls" für die tschechische Parlamentswahl am 20. und 21. Oktober. Tschechiens sozialdemokratischer Regierungschef Bohuslav Sobotka, der nicht erneut kandidiert, warnte dagegen: "Heute hetzen sie gegen Flüchtlinge und die EU, morgen werden Tschechen und Polen zum Ziel."

Nach dem vorläufigen Endergebnis fiel die CDU/CSU am Sonntag auf ihr schwächstes Ergebnis seit 1949: 33 Prozent (2013: 41,5). Die SPD stürzte auf ein Rekordtief von 20,5 Prozent (25,7). Die AfD, 2013 noch knapp gescheitert (4,7), legt mit 12,6 Prozent um knapp das Dreifache zu. Die FDP kehrt mit 10,7 Prozent in den Bundestag zurück (4,8). Die Linken verbuchen 9,2 Prozent (8,6), die Grünen 8,9 (8,4).

Mit 709 Abgeordneten ist der Bundestag in der neuen Wahlperiode so groß wie nie zuvor. Die Sitzverteilung sieht nach Angaben des Bundeswahlleiters so aus: CDU/CSU: 246 Mandate, SPD: 153, AfD: 94, FDP: 80, Linke: 69, Grüne: 67. Die Wahlbeteiligung betrug 76,2 Prozent (2013: 71,5).

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