"Man geniert sich derzeit nur, ein Muslim zu sein"

"Man geniert sich derzeit nur, ein Muslim zu sein"
Die Mörderbanden des "Islamischen Staates" berufen sich auf den Koran und Mohammed. Wie viel Islam steckt tatsächlich im islamistischen Terror?

Ednan Aslan verfolgt die Berichte über die Gräueltaten der IS-Milizen und ihren drakonischen Verhaltenskodex – Dieben wird die Hand abgehackt, Frauen sollen zu Hause bleiben, Gegnern der Islamisten droht die Ermordung usw. – mit zunehmender Verzweiflung. "Weil Muslime nirgendwo auf der Welt ihre Probleme mit friedlichen Mitteln lösen können, ist Krieg beinahe eine islamische Angelegenheit geworden". Aslan lehrt am Institut für Islamische Religionspädagogik in Wien. Der Gelehrte sagt: "Derzeit geniert man sich nur, Muslim zu sein". Dass westliche Staaten Wirtschaftsinteressen in mehrheitlich muslimischen Ländern verfolgen, sich machtvoll in die Politik dieser Staaten einmischen, das alles sei keine Entschuldigung für das Vorgehen der Terrormiliz und die unschuldigen Opfer.

Deren Angehörige sitzen auch in Österreich: Sandos Solamen hält sich an ihrer Handtasche fest, kämpft mit den Tränen. Die Jesidin und alleinerziehende Mutter lebt und arbeitet seit 2003 in Wien. Und noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Angst. Angst um ihre Verwandten und Bekannten, die vor dem islamistischen Terror aus dem Irak in die Türkei geflüchtet sind. "Ich werfe nicht alle Muslime in einen Topf. Ich denke, dass der Islam grundsätzlich eine friedliche Religion ist." Obwohl der IS ihre Glaubensbrüder vor die Wahl gestellt habe, entweder zum Islam überzutreten oder ermordet zu werden, legt sie Wert auf diese Unterscheidung. Die Obfrau von "Mala Ezidiya", dem Verein der Jesiden in Wien, hat viele muslimische Freunde und Bekannte. "Der IS verfolgt uns, weil wir in ihren Augen Ungläubige sind. Aber das, was IS uns antut, das ist nicht der wahre Islam."

Ähnlich der Politologe Thomas Schmidinger kürzlich im ORF-Morgenjournal: Der IS sei eine radikalisierte Ideologie, die den Islam zur Mobilisierung nutzte. Professor Aslan ist da etwas anderer Meinung: "Islam und Islamismus haben natürlich miteinander zu tun, insofern als die Islamisten ihre Schandtaten ja mit der Heiligen Schrift begründen."

Keine Gnade

Der Autor Hamed Abdel-Samad spricht sogar vom "Islamofaschismus". Begründung: Der Islam dulde keine abweichenden Meinungen und strebe nach der Weltherrschaft. Islamische Gelehrte haben zum Mord an dem Autor aufgerufen. Abdel-Samad habe den Propheten beleidigt, der ihnen heilig ist. Begnadigung durch Reue sei daher unmöglich.

Die "Richtigkeit" des Todesurteils wird mit einer Geschichte aus dem Leben Mohammeds belegt, die der Autor in seinem Buch "Der islamische Faschismus" (Droemer Knaur, 2014, 18,50 Euro) in voller Länge zitiert: Der Prophet Mohammed entdeckte vor seiner Moschee einmal eine getötete Frau. Er fragte die Betenden, wer sie umgebracht habe. Ein blinder Mann erhob sich und sagte: "Ich habe sie getötet, Prophet Gottes. Sie ist meine Sklavin und ich habe von ihr zwei kleine Kinder, die zwei Perlen gleich sind. Doch gestern hat sie dich, Prophet Gottes, beleidigt. Ich habe sie aufgefordert, dich nicht mehr zu schimpfen, aber sie wiederholte was sie gesagt hatte. Ich konnte das nicht aushalten und habe sie umgebracht." Mohammed sagte daraufhin: "Ihr seid meine Zeugen, das Blut dieser Frau ist zu Recht geflossen!"

Mit Zitaten wie diesen könnten auch die IS-Kämpfer "locker" Mord und Blutvergießen theologisch untermauern, sagt Aslan. "Diese Menschen benutzen historische Quellen aus dem 7. Jahrhundert, ohne den historischen Kontext zu beachten. Diese Art von Islam ist nicht mein Islam, aber tatsächlich kann die IS-Miliz ihre Schandtaten mit Quellen belegen." Die Nicht-Erwähnung in den Schriften ist keine Rettung vor dem IS-Terror: Das Vorgehen gegen die Jesiden lasse sich auch dadurch begründen, "dass es im Islam schlicht keine theologische Grundlage für ein Zusammenleben mit Jesiden gebe", sagt der Wiener Religionsforscher Wolfram Reiss. Nur das Zusammenleben mit Juden, Christen und anderen als Monotheisten und Schriftbesitzer anerkannten Religionen sei dort geregelt. Da die Jesiden wegen ihrer Verehrung des Engels Melek Taus als "Teufelsanbeter" gelten würden, in ihrem Kult auch Vogelfiguren eine Rolle spielten und sie keine Heiligen Bücher nachweisen könnten, gehörten sie traditionell nicht zu den Religionen, die toleriert würden. Toleriert werden vom IS im Irak und Syrien aber auch andere Religionen nicht – alles sind "Ungläubige", die verfolgt werden.

Klassische Scharia-Theorie

Zurück nach Österreich: Überzeugte und liberale Muslime wie der österreichische Palästinenser Rami Shehadeh und seine Frau Anne (siehe unten) schätzen am Islam seine größere Klarheit im Vergleich zum Christentum, "etwa die Dreifaltigkeit, wenn es nur einen Gott gibt. Warum es schwieriger machen?" Den Islam sieht Anne als Erweiterung zum Christentum, nicht als Gegensatz. Manche konservative Muslime haben allerdings Probleme, ihre Religiosität und die pluralistische Gesellschaft ihrer neuen Heimat unter einen Hut zu bringen.

Aslan: "Diese Menschen sagen, dass es die Scharia in Österreich nicht gibt, weil sie hier als Minderheit leben. Wenn sie sich diese Worte auf der Zunge zergehen lassen, was heißt das? Sie leben in einer Gesellschaft, in der sie nicht leben sollten, weil sie ihre Regeln hier nicht verwirklichen können. Sie steinigen hier keine Frauen, aber wenn sie die Mehrheit hätten, dann würden sie das tun? So könnte man das verstehen. Mord, Vertreibung und Unterdrückung von Ungläubigen, also das was der IS im Irak macht, entspricht den Regeln der klassischen Scharia-Theorie."

Der gebürtige Türke Aslan erzählt, dass immer mehr Forscherkollegen seiner alten Heimat den Rücken kehren, da selbst dort Widerspruch immer weniger geduldet werde. "Wenn es uns Muslimen im Westen nicht gelingt, den Islam europäisch zu prägen, dann werden wir immer wieder mit IS-Organisationen zu tun haben."

Aktuelle Meldungen über Konflikt im Irak und Syrien finden Sie hier.

"Man geniert sich derzeit nur, ein Muslim zu sein"

Auch das ist Islam. Rami Shehadeh und sein Frau Anne haben einander 1989 in Deutschland kennengelernt. Er, ein in Jordanien geborener Palästinenser und traditionell geprägter Muslim. Sie, eine streng katholisch erzogene Frau. "Wir waren schon verheiratet. Ich bin weiter zur Kirche gegangen. Wir haben viel diskutiert, so kam ich zum Islam. Freiwillig natürlich", erzählt sie, "man kann ja niemanden zwingen, seinen Glauben zu wechseln". Seit 1991 praktiziert das Paar seine Religion mit den täglichen fünf Gebeten. Der Islam gebe Halt und lasse die irdischen Ungerechtigkeiten verblassen. "Man weiß, was man zu befolgen hat, und es ist ganz klar und einfach", sagt Frau Shehadeh.

Im Islam gibt es Kleider- und Essensvorschriften. Für beide Geschlechter gilt: keine körperbetonte Kleidung, Frauen müssen Kopf und Dekolleté bedecken. Schweinefleisch und Alkohol sind haram (Sünde). Tiere müssen vollständig ausgeblutet sein.

Anne und ihr Mann interpretieren ihren Glauben liberal. Problemlos sind die rituellen Handlungen wie die Fußwaschung vor den Gebeten untertags. "Wenn man sich zu Hause gewaschen hat, braucht man im Job nur mit der Hand symbolisch über die Schuhe zu streifen", sagt Software-Entwickler Rami. Anne war "leider" wegen der Kinder nie in Mekka, erzählt er dem KURIER, Rami schon zwei Mal. "So viele Menschen auf einem Fleck, aus so vielen Völkern, diese Vielfalt muss man erlebt haben!", sagt er. "Alle diese Menschen sind gleichgestellt, egal ob König, Milliardär oder Bettler, alle sind gleich angezogen, alle Frauen, alle Männer." Kleiner Faktencheck: Tatsächlich sind im Islam vor Allah beide Geschlechter gleich. Im Erbrecht und im alltäglichen Leben ist die Frau allerdings benachteiligt.

Wenn Sandos Solamen von den Frauen und Mädchen erzählt, die in einem Dorf nahe Shingal von Kämpfern des "Islamischen Staates" (IS) in Käfigen gefangen und auf einem Basar verkauft wurden, wird ihre Stimme brüchig und verstummt. Sie kann ihre Tränen nicht unterdrücken, Sohn Dimuzi sitzt neben ihr und reicht ein Taschentuch. "Zehn Dollar für ein Mädchen, manchmal auch weniger. Die hübschesten wurden an die Oberhäupter und Generäle der IS verkauft", sagt die zierliche Frau mit matter Stimmer. Sie will diese Geschichten erzählen, obwohl es ihr schwer fällt.

"Man geniert sich derzeit nur, ein Muslim zu sein"
Solamen ist Obfrau von "Mala Ezdiya", dem Verein der Jesiden in Wien. Seit 2003 lebt die Englischlehrerin aus Bagdad mit ihrem 22-jährigen Sohn Dimuzi in Österreich. Nun bangen sie um die Menschen im Irak, die von den IS-Kämpfern grausam verfolgt und ermordet werden. Die Übergriffe auf Jesiden im Nordirak gehören nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef zu den schwersten dieses Jahrhunderts. Der Organisation liegen allein in der Provinz Ninawa 80 belegte Fälle vor. Augenzeugen, die aus der Shingal-Region geflohen sind, sprachen von Tötungen, sexuellem Missbrauch von Frauen und Kindern und Verschleppungen. 200.000 Jesiden befinden sich derzeit auf der Flucht. Einige haben sich in den Bergen um Shingal versteckt. Dort allerdings drohen viele – vor allem ältere Menschen und Kinder – zu verhungern und zu verdursten. Solamens Verwandte haben es teilweise bis in die Türkei geschafft. "Sie sind in einem Flüchtlingslager untergebracht und wissen nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Sie können nicht mehr zurück."

Verfolgte Minderheit

Jesiden sind eine Minderheit unter den Kurden. Sie verstehen sich als eine der ältesten monotheistischen Religionen der Menschheit, kennen keinen Teufel und keine Hölle. Im Zentrum ihres Glaubens steht der Engel Melek Taus, ein Pfau. Er erschuf in Gottes Auftrag die Welt sowie Adam und Eva. Die meisten Jesiden stammen aus dem Irak, Syrien, Iran oder der Türkei. Ihre Anzahl ist nicht genau bekannt. Experten schätzen sie auf 700.000 bis 800.000 weltweit. Soleman berichtet von 100 jesidischen Familien in Wien und zirka 500 in ganz Österreich. Die IS-Kämpfer verfolgen die Jesiden, weil sie in ihren Augen Ungläubige sind. "Sie sagen, wir haben kein Buch wie den Koran – das stimmt zwar, aber wir glauben auch an Gott." Es ist der 74. Versuch, die Jesiden auszulöschen, setzt Soleman fort. Sie berichtet von IS-Truppen, die in Dörfer einmarschieren und die Menschen vor ein Ultimatum stellen: Entweder sie konvertieren zum Islam oder sie müssen sterben.

"Man geniert sich derzeit nur, ein Muslim zu sein"
Der 22-jährige Dimuzi verfolgt die Ereignisse über Facebook und Twitter. Auf seinem Smartphone zeigt er ein Propaganda-Video von IS. Zu sehen sind jesidische Männer, die unter angedrohter Waffe gezwungen werden, ihrem Glauben zu entsagen, um dann bei einer Predigt von einem Priester bekehrt zu werden. Zusammengepfercht sitzen sie am Boden, keiner sieht auf. Dimuzi berichtet auch davon, wie junge Männer über soziale Medien rekrutiert werden. "Sie werden mit Geld gelockt und in Ausbildungscamps gebracht. Dort geht es weiter mit der Gehirnwäsche: Ihnen wird versprochen, dass sie für den Mord an einem Ungläubigen ins Paradies kommen, an einem Tisch mit Mohammed zu Mittag essen und mit vielen Frauen belohnt werden – Ungebildete lassen sich davon beeindrucken."

Schicksal

Was Sandos Solamen derzeit besonders beschäftigt, ist das Schicksal der verschleppten Frauen und Mädchen: "Was passiert mit ihnen, wenn sie freikommen? Sie wurden von der IS festgehalten, das heißt für die Angehörigen, sie wurden vergewaltigt und bedeutet in deren Augen, dass sie Schande über die Familie gebracht haben. Sie gehören nicht mehr dazu, weil sie kein Jeside mehr heiraten würde – obwohl sie nichts dafür können. Das ist furchtbar."

Solamen schüttelt den Kopf. Es ist ihre eigene Religion, die sie an diesem Punkt nicht versteht. "Es ist eine Religion, in die man nicht rein und nicht raus kann", ergänzt ihr Sohn. Damit meint er, dass Jesiden nur untereinander heiraten dürfen - es darf auch niemand zum Jesidentum konvertieren. Beziehungen mit Menschen anderer Glaubensrichtungen sind nicht erlaubt. Solamen will dies ändern, ihre Glaubensrichtung revolutionieren – wie sie stolz sagt. "Es wäre auch für unsere Kultur besser, wenn wir etwas offener wären. Aber leider sind viele unserer Leute sehr streng." Für ihre Pläne hat sie mit Bābā Schaich (Vater Scheich, Anm.) Kontakt aufgenommen. Er ist das Oberhaupt der Jesiden und lebt im Irak. "Ich habe ihn gefragt, wieso wir es den Frauen - auch den verschleppten, die kein Jeside mehr heiraten würde - nicht zumindest ermöglichen, Männer aus anderen Religionen zu heiraten? So müssen sie ihr Leben alleine verbringen, außerhalb der jesidischen Gesellschaft." Doch bei diesem Thema, so Solamen, macht das Oberhaupt dicht. Es ist ein Tabuthema, doch sie will nicht aufgeben.

Für die Flüchtlinge fordert sie humanitäre Hilfe und bittet um deren Aufnahme in Europa und in Österreich. "Es wurden zwar Lebensmittel per Helikopter in die Berge geflogen, doch diese sind schnell verbraucht. In wenigen Wochen wird es dort sehr kalt, die Menschen haben keine Unterkünfte. Sie müssen weggebracht werden." Dazu kommt, dass viele Hilfsgüter und Spenden in den jeweiligen Dörfern im Irak nicht verteilt wurden. "Immer wieder hören wir, dass nichts angekommen ist. Es wurden Millionen gespendet, aber nichts kam an. Wie kann das sein?" Solamen fordert eine kontrollierte Vergabe der Spenden etwa unter der Aufsicht von UN-Mitarbeitern.

Petition

"Man geniert sich derzeit nur, ein Muslim zu sein"
Vor einigen Tagen wandten sich Solamen und andere jesidische Vertreter auf einer Pressekonferenz mit ihren Anliegen an die Medienvertreter. Sie hatten eine Petition vorbereitet. "Wir haben vier Hauptforderungen. Erstens brauchen wir dringend humanitäre Hilfe. Dann bitten wir um die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa und in Österreich. Zudem soll eine humanitäre Schutzzone errichtet werden in der Region. Letztlich ist es wichtig, dass eine Untersuchungskommission die Ereignisse der letzten Wochen im Nordirak und insbesondere die Massaker an den Jesiden überprüft", sagte Alo Schwan, Vertreter der Shingal Gemeinde in Deutschland.

Unterstützung bekamen sie auch von der Türkischen Kulturgemeinde Österreich. Birol Kilic, deren Leiter, appellierte an seine Glaubensgemeinschaft: "Ich rufe alle Muslime auf, sich von der Terrorgruppe IS zu distanzieren und Jugendliche aufzuklären. Denn die haben mit dem Islam nichts zu tun. Vor allem die Menschen aus der Türkei müssen aufstehen und sagen, dass hier ein schrecklicher Genozid passiert." Trotz der schrecklichen Taten, die IS-Terroristen im Namen Allahs verüben, legt Solamen Wert auf ein differenziertes Bild von Muslime: "Man darf sie nicht alle in einen Topf werfen. Wir haben viele muslimische Freunde und Bekannte. Das, was die IS macht, das ist nicht der wahre Islam."

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