Krim-Krise: Ukraine am "Rande der Katastrophe"

Der Kreml hat grünes Licht für einen Einmarsch auf Halbinsel Krim gegeben - Folgen ungewiss.
Übergangspremier Jazenjuk spricht von einer "Kriegserklärung" Russlands. Kiew mobilisierte alle Reservisten.

Übergangsregierungschef Arseni Jazenjuk sieht sein Land am "Rande der Katastrophe". In der Ukraine gelte die "Alarmstufe Rot", sagte Jazenjuk am Sonntag mit Blick auf die russische Drohung mit einem Militäreinsatz auf der zur Ukraine gehörenden Krim.

Der Beschluss des russischen Parlaments, das am Samstag auf Antrag von Präsident Wladimir Putin die Entsendung von Truppen auf die Halbinsel genehmigt hatte, sei "keine Drohung", sondern "eine Kriegserklärung gegen mein Land"."Wenn Präsident (Wladimir) Putin der Präsident sein will, der einen Krieg zwischen zwei benachbarten und befreundeten Ländern, zwischen der Ukraine und Russland, begonnen hat, dann ist er von diesem Ziel nur noch ein paar Zentimeter weit entfernt", sagte Jazenjuk. "Wir befinden uns am Rande der Katastrophe." Der prowestliche Politiker appellierte zudem an den Westen und die internationale Gemeinschaft, sich für die "territoriale Integrität und Einheit" der Ukraine und gegen einen "von der Russischen Föderation provozierten militärischen Konflikt" einzusetzen.

Kerry: "Meinen es todernst"

US-Außenminister John Kerry hat Moskau vor einem Verlust seiner Mitgliedschaft bei den sieben führenden Industrienationen gewarnt. Wenn der Konflikt um die Ukraine weiter eskaliere, könnte der russische Staatschef Wladimir Putin "keinen G-8-Gipfel in Sotschi haben, er könnte sogar nicht in den G-8 bleiben, wenn das so weitergeht", sagte Kerry am Sonntag dem US-TV-Sender NBC. Der US-Außenminister drohte weiters mit wirtschaftlichen Strafmaßnahmen und Reiseverboten. Das Vorgehen von Präsident Wladimir Putin auf der Krim sei ein "kühner Akt der Aggression", der "sehr ernste Konsequenzen" nach sich ziehen könne. Russland müsse begreifen, "das dies ernst ist. Wir meinen es todernst."

Ukraine bat NATO um Beistand

Die Ukraine fürchtet angesichts der faktischen Besetzung der Halbinsel durch russische Kräfte einen Krieg mit seinem übermächtigen Nachbarland und hat deshalb die NATO um militärischen Beistand gebeten. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat Russland zum sofortigen Stopp seines Militäreinsatzes in der Ukraine aufgefordert. "Was Russland derzeit in der Ukraine tut, verstößt gegen die Prinzipien der UNO-Charta. Es bedroht den Frieden und die Sicherheit in Europa", sagte Rasmussen am Sonntag unmittelbar vor Beginn eines Krisentreffens des NATO-Rates in Brüssel. Er habe das Treffen wegen der Drohungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen den souveränen Staat Ukraine einberufen. "Russland muss seine Militäraktionen und seine Drohungen stoppen."

Geht es nach der neuen pro-russischen Führung, so soll die Krim als eigener Staat existieren. Bei einem Referendum am 30. März sollen die mehrheitlich russischsprachigen Krim-Bewohner über eine Abspaltung von der Ukraine entscheiden.

US-Präsident Barack Obama telefonierte mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin. Die USA forderten Russland zum Truppenabzug auf und sprachen sich für den sofortigen Einsatz internationaler Beobachter aus. Putin kündigte an, Russland werde seine Interessen im Osten der Ukraine und auf der Krim verteidigen.

Proteste in Moskau

In Moskau wurden laut der Bürgerrechtsgruppe Ovdinfo bei zwei Kundgebungen gegen einen russischen Militäreinsatz in der Ukraine rund 350 Menschen festgenommen. Die Demonstranten hatten sich in der Nähe des Verteidigungsministeriums sowie auf dem Maneschnaja-Platz unweit des Kremls versammelt und die ukrainische Landesflagge geschwenkt. Auf ihren Plakaten stand die Parole "Nein zum Krieg".

Putin will "Angehörige schützen"

Putin hatte sich am Samstag vom Parlament die Entsendung russischer Soldaten in das Nachbarland genehmigen lassen. Angehörige der russischen Schwarzmeerflotte, die auf der Krim stationiert ist, bewachen inzwischen gemeinsam mit Sicherheitskräften der autonomen Teilrepublik wichtige Gebäude, wie der pro-russische Regierungschef der Krim, Sergej Axjonow, mitteilte. Putin begründete einen möglichen Militäreinsatz mit einer lebensbedrohlichen Lage für Russen und die Angehörigen der russischen Streitkräfte in der Ukraine. Auf der Krim stellen ethnische Russen die Bevölkerungsmehrheit.

Nach ukrainischen Angaben hat Russland zuletzt 6.000 Soldaten auf die Krim verlegt. Die Regierung in Kiew versetzte ihrerseits die Streitkräfte in volle Kampfbereitschaft und forderte Russland auf, Bewegungen des Militärs sofort einzustellen. Der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk warnte Russland, dass eine militärische Intervention zwangsläufig zu einem Krieg führe.

GEORGIEN: Jahrelang ließ Russland in den beiden von Georgien abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien paramilitärische Einheiten ausbilden und ausrüsten. Diese sogenannten Selbstverteidigungstrupps lieferten sich wiederholt Gefechte mit der georgischen Armee, bis Tiflis im August 2008 der Geduldsfaden riss: Der georgische Präsident Michail Saakaschwili, der forsch den EU- und NATO-Beitritt propagierte, startete eine groß angelegte Militäroffensive, um die Kontrolle über Südossetien zurückzugewinnen.

Russland antwortete, indem es eigene Truppen entsandte und mit ihnen Teile des georgischen Staatsgebiets besetzte. Wenige Wochen später erkannte Moskau einseitig die Unabhängigkeit von Südossetien und Abchasien an und ließ dort dauerhafte Militärstützpunkte einrichten. Aus dem georgischen Kernland zogen sich die Truppen indes zurück. De facto haben sich die beiden international nicht anerkannten Gebiete zu russischen Regionen entwickelt, über deren Besatzung sich Tiflis regelmäßig beklagt.

Georgischen Sicherheitskreisen zufolge sind in Südossetien und Abchasien noch immer jeweils 3.500 russische Soldaten stationiert. Hinzu kommen demnach 150 Panzer und mehrere Raketenabschussbasen in beiden Gebieten. Deren Landzugänge werden überdies von tausenden russischen Grenzschützern kontrolliert, die dem Inlandsgeheimdienst FSB unterstellt sind.

TRANSNISTRIEN: Nach dem Ende der Sowjetunion entwickelte sich das schmale und mehrheitlich russischsprachige Gebiet am Ostufer des Dnjestr-Flusses in Moldau zu einer russischen Exklave im Vorhof Europas. Anfang der 90er Jahre sagte sich die mehrheitlich russischsprachige Region mit einer halben Million Einwohner von Moldau los, doch wird auch hier die Unabhängigkeit international nicht anerkannt. In der Folge kam es zu Kämpfen zwischen moldauischen Streitkräften und von russischen Soldaten unterstützten transnistrischen Milizen.

Nachdem schon Hunderte Menschen getötet worden waren, setzte die russische Armee 1992 einen Waffenstillstand durch. Seither überwacht eine trinationale Friedenstruppe mit Soldaten aus Russland, Moldau und Transnistrien das einst blutig umkämpfte Gebiet. Allerdings hält Moskau gegen den Willen der Regierung von Moldau noch immer eigene Soldaten und Waffenvorräte dort zurück - trotz einer 1999 getroffenen Rückzugsvereinbarung.

Im Jahr 2006 stimmte die Bevölkerung von Transnistrien mit einer überwältigenden Mehrheit von 97,1 Prozent für die Angliederung an Russland, zu dem aber keine gemeinsame Grenze besteht. Verhandlungen zwischen Moldau, Russland, Transnistrien, der Ukraine und der Organisation für Sicherheit und Europa (OSZE) über einen Kompromiss laufen seit Jahren. Angestrebt wird ein moldauischer Einheitsstaat, innerhalb dessen Transnistrien umfassende Autonomierechte genießen soll. Bei den sogenannten 5+2-Verhandlungen haben die Europäische Union und die USA Beobachterstatus.

TADSCHIKISTAN: Als 1992 in Tadschikistan der Bürgerkrieg ausbrach, waren bereits russische Soldaten in der Konfliktregion stationiert. Offiziell nahm Moskau für seine Truppen in Anspruch, dass diese lediglich zur Friedenssicherung und zum Schutz von Flüchtlingen abgestellt seien. Tatsächlich aber unterstützte Russland die Staatsführung von Präsident Emomali Rachmon in ihrem Kampf gegen die islamistische Opposition.

Neben den russischen Soldaten waren auch Streitkräfte früherer Sowjetrepubliken zugegen, mit deren Hilfe der Autokrat Rachmon den Bürgerkrieg 1993 schließlich zu seinen Gunsten entscheiden konnte. Bis dahin waren in Tadschikistan schätzungsweise 150.000 Menschen ums Leben gekommen. Heute unterhält Russland eine Militärbasis in dem strategisch wichtigen Land, das an Afghanistan grenzt. Die Truppenpräsenz wird durch ein langfristiges Abkommen geregelt.

Maßlos enttäuscht" ist EU-Regionalkommissar Johannes Hahn vom Vorgehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Konflikt mir der Ukraine. In der ORF-Pressestunde sagte Hahn am Sonntag im Hinblick auf die Eskalation auf der Krim: "Was Putin da gemacht hat, ist auf das Schärfste zu verurteilen."

"Die Dinge sind verquickt"

Hahn verwies auf die wirtschaftlichen Probleme Russlands und meinte: "Was Russland sichtlich noch nicht verstanden hat, ist: Wir sind in einer multipolaren Welt angekommen, wo die Dinge so verwoben und verquickt sind, dass derartige Maßnahmen vollkommen kontraproduktiv - auch für das russische Volk - sind."

Das Ausmaß etwaiger EU-Hilfe für die Ukraine wird laut Hahn von einer Expertengruppe unter Beteiligung der Weltbank erhoben, die in der kommenden Woche nach Kiew reisen werde. Das Assoziierungsabkommen der EU mit Kiew, dessen Nicht-Abschluss durch Präsident Viktor Janukowitsch letztlich der Auslöser für den Umsturz im Land war, ist für Hahn jedenfalls nicht vom Tisch: "Die Tür ist nicht verschlossen, unser Angebot steht." Jegliche Überlegungen hinsichtlich eines EU-Beitritts der Ukraine hält er dagegen für völlig unrealistisch: "Davon sind wir weit entfernt."

Keine Gas-Krise

Hahn erwartet unterdessen keine neue Gas-Versorgungskrise in Europa im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Auch Russland sei abhängig davon, dass ihm das Erdgas abgenommen und bezahlt werde. Ziel der EU müsse es jedenfalls sein, die Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten zu reduzieren.

Für die, die jetzt in Kiew das Sagen haben, ist er einer, der gejagt werden sollte, wie der Bösewicht in einem Western-Film. Kleine Plakate mit seinem Porträt, über dem das Wort "Gesucht" steht, hängen überall in der Stadt. "Massenmörder" nennt man ihn, einen Menschen mit "höchster krimineller Energie", einen "faulen Sonnenkönig", der jede Beziehung zu seinem Volk verloren habe – hinter den hohen Stahlwänden seines opulenten Anwesens.

Nach einer mehr als eine Woche dauernden Flucht ist Janukowitsch nun in Russland. Dort genießt er zwar Wladimir Putins Schutz, ist aber nicht wirklich wohl gelitten. Für Russland hat der gestürzte Ex-Präsident seine Schuldigkeit getan. Denn in Moskau weiß man genau: An die Macht zurück, wo Janukowitsch auch Russlands Einfluss exekutieren sollte, wird er nie wieder zurückkommen.

Dennoch sieht sich Janukowitsch nach wie vor als legitimer Präsident. Einer aber, der vor der eigenen Justiz fliehen musste: Das ukrainische Innenministerium hat ihn auf die Liste der meistgesuchten Personen gesetzt. Der Vorwurf: Massenmord – 90 Menschen starben während der Proteste.

Was genau sich hinter den meterhohen grünen Sichtschutzwänden von Janukowitschs Anwesen zugetragen hat in den vergangenen vier Jahren seiner Regentschaft, wird gerade dieser Tage von Journalisten und Vertretern der Zivilgesellschaft rekonstruiert.

Milliarden abgezogen

Bisher existieren nur Einschätzungen. Ein politischer Insider und Unternehmer mit gutem Draht zur gegenwärtigen Führung nennt Janukowitschs Handhabe der vergangenen Jahre: "Sehr organisiertes Verbrechen". Arseni Jazenjuk, gegenwärtig Interimspremier, beschuldigte die abgetretene Führung, in den vergangenen drei Jahren 37 Mrd. Dollar an Krediten und 20 Mrd. Dollar an Reserven der Nationalbank gestohlen zu haben. Dieses Geld sei in Offshore-Guthaben geflossen.

Krim-Krise: Ukraine am "Rande der Katastrophe"
Ukrainian President Viktor Yanukovich (L) gives a wink to his Russian counterpart Vladimir Putin during a signing ceremony after a meeting of the Russian-Ukrainian Interstate Commission at the Kremlin in Moscow in this December 17, 2013 file photo. To match Special Report UKRAINE-RUSSIA/DEAL REUTERS/Sergei Karpukhin/Files (RUSSIA - Tags: BUSINESS POLITICS)
Tatsache ist: Ein enger Kreis um den Präsidenten war in den vergangenen Jahren zu enormem Reichtum und großer politischer Macht gekommen. So die Brüder Kljujew, die Azarows sowie sein eigener Sohn Oleksandr, ein gelernter Zahnarzt und heute einer der reichsten Personen der Ukraine.

Tituliert wurde diese Runde von den Ukrainern mit dem wenig schmeichelhaften Namen "die Familie". Unklar ist, wer in diesem Zirkel das Sagen hatte – es gibt Vermutungen, dass der eher dröge Janukowitsch kaum selbst der tatsächliche Entscheidungsträger, sondern nur das politische Exekutivorgan anderer gewesen sein kann. Immer wieder werden in diesem Zusammenhang die Kljujews genannt, die das aber vehement zurückweisen.

Der Staat als Mafia

Über die Methoden der Familie sagt ein ukrainischer Unternehmer: "Die Staatsorgane als Handlanger der Mafia – Schutzgeld ging an die Steuerfahndung. Wer nicht zahlte, dem drohte ein Verfahren vor einem Janukowitsch-treuen Richter. Und wer dann noch Probleme machte, wurde mit dem Tod bedroht. Die Ironie an der Sache: Es war praktisch egal, ob man auch tatsächlich Steuern zahlte."

Schätzungen gehen davon aus, dass in der Ukraine in den vergangenen Jahren bis zu 50 Prozent des BIP an der Steuer vorbei erwirtschaftet wurden. Ein Problem, das zwar immer vorhanden, aber in den vergangen Jahren eskaliert war.

Neben diesen Verbrechen sind es vor allem Menschenrechtsverletzungen, die Janukowitsch angelastet werden. Wahlfälschungen oder Unterdrückung der Pressefreiheit sind die weniger schwerwiegenden Anschuldigungen. Wer genau den Polizisten die Order gab, auf dem Maidan zu schießen, ist noch nicht endgültig geklärt. Publik wurden auch Pläne zur Niederschlagung der Proteste, die den Einsatz von Panzern und scharfer Munition in weitaus breiterem Umfang als geschehen vorgesehen hätten. Und unklar ist auch, wer die vielen zivilen Schlägerbanden aufstellte, die für Verbrechen bis hin zu Mord, Geiselnahmen und Folter während der drei Monate langen Proteste verantwortlich gemacht werden.

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