Lage in syrischer Grenzstadt dramatisch

Rauch über Kobane
Der Kampf um Kobane tobt – die Dschihadisten wurden zurückgedrängt, starteten aber offenbar eine neue Offensive.

Seit Tagen dauert der Kampf um die syrische Stadt Kobane, die direkt an der Grenze zur Türkei liegt, nun schon an – vor den Augen der Weltöffentlichkeit marschierten die IS-Truppen dort ein, die türkische Armee verharrte tatenlos hinter der Grenze. Die Lage in der umkämpften Stadt ist unklar. Es gibt widersprüchliche Meldungen. Zunächst hieß es, dass sich die Dschihadisten laut syrischen Aktivisten in der Nacht zum Mittwoch aus Teilen der umkämpften Stadt zurückgezogen hätten. Infolge der internationalen Luftangriffe hätten die IS-Kämpfer Viertel im Osten und am Südwestrand der Stadt verlassen, hieß es von der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte.

Entgegen früheren Meldungen beschreiben die kurdischen Kämpfer die Lage in der von der Terrormiliz IS eingekesselten syrisch-kurdischen Stadt Kobane nun aber als dramatisch. "Die Situation ist schlechter, als die Menschen denken", sagte ein Kämpfer der Volksschutzeinheiten, der aus Kobane über die Grenze in die Türkei kam, am Mittwoch der Nachrichtenagentur dpa in Suruc. "Viele sind ernsthaft verletzt und noch immer drinnen (in Kobane). Es war nicht möglich, sie raus zu bringen. IS ist sogar noch näher gekommen." Der Kämpfer wollte nicht namentlich genannt werden.

Ein kurdischer Aktivist namens Farhad al-Shami in Kobane sagte der dpa am Telefon, die Kämpfe konzentrierten sich auf den Osten der Stadt. "IS-Kämpfer haben eine groß angelegte Offensive begonnen, um den gesamten Bezirk Kani Araban unter ihre Kontrolle zu bringen", sagte er.

Ein dpa-Korrespondent in Suruc berichtete von heftigen Gefechten in Kobane, die auf der türkischen Seite der Grenze zu hören seien. Verwundete kurdische Kämpfer würden aus Kobane in türkische Krankenhäuser gebracht. Ein Krankenwagenfahrer sagte der dpa, es stünden zu wenig Wagen zu Verfügung. "Es kommen mehr und mehr Verwundete an der Grenze an", sagte er.

Straßen voller Leichen

Der kurdische Aktivist und Journalist Mustapha Ebdi berichtete am Mittwoch im Internet, die Straßen des Maktala-Viertels im Südosten Kobanes seien "voller Leichen" von IS-Kämpfern. Er warnte, die humanitäre Lage für die hunderten in der Stadt verbliebenen Zivilisten sei sehr schwierig. Eine AFP-Korrespondentin beobachtete, wie im Zentrum der Stadt das Minarett einer Moschee einstürzte.

NATO-Eingriff möglich

Um die Türkei in die Pflicht zu nehmen, reist der neue NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Donnerstag nach Ankara. Dfrühere norwegische Ministerpräsident will den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan treffen, zudem stehen unter anderem Gespräche mit Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sowie der Militärführung auf dem zweitägigen Besuchsprogramm. Sollte die Terrormiliz IS von der Grenzstadt Kobane in Richtung Türkei vorrücken, könnte Ankara den Bündnisfall ausrufen, der Nato-Partner zur Verteidigung der Türkei verpflichten würde. Wenn die Türkei bedroht werde, gebe es auch die Möglichkeit, Truppen zu entsenden, hatte Stoltenberg bereits vor einigen Tagen auf Fragen nach einem möglichen Nato-Einsatz in Syrien gesagt.

"Dreißigjähriger Krieg"

Die USA warnen indessen davor, dass sich die Kämpfe zu einem lange dauernden Krieg auswachsen könnten: Der frühere US-Verteidigungsminister Leon Panetta rechnet mit einem womöglich Jahrzehnte dauernden Kampf gegen den IS. "Ich denke, wir stehen vor einer Art von Dreißigjährigem Krieg", sagte Panetta der US-Zeitung USA Today. Der Kampf könnte sich dabei auch auf Bedrohungen durch islamistische Gruppierungen in Ländern wie Libyen, Nigeria, Somalia und Jemen ausweiten. Panetta bringt am Dienstag eine Autobiografie heraus, in der er die Politik von US-Präsident Barack Obama für den Aufstieg der IS-Miliz mitverantwortlich macht.

Kritik an Obama

In USA Today beklagte Panetta, dass die Entscheidung des Präsidenten ein "Sicherheitsvakuum" im Zweistromland hinterlassen habe. Außerdem warf er Obama vor, nicht rechtzeitig gemäßigte Rebellengruppen im Kampf gegen den syrischen Machthaber Bashar al-Assad unterstützt zu haben. Noch habe der Präsident aber die Möglichkeit, "den Schaden zu reparieren", sagte Panetta, der von Juli 2011 bis Februar 2013 das Pentagon führte und davor an der Spitze des Geheimdienstes CIA stand.

Obama lässt die US-Luftwaffe seit Anfang August Angriffe auf Stellungen der Dschihadisten fliegen. Außerdem hat der Präsident 1600 Soldaten in den Irak verlegt, um die dortigen Sicherheitskräfte zu beraten und US-Einrichtungen in dem Land zu schützen. Im syrischen Bürgerkrieg sollen zunächst rund 5000 ausgesuchte Oppositionskämpfer auf saudiarabischem Boden von den USA ausgebildet und ausgerüstet werden. US-Generalstabschef Martin Dempsey sagte allerdings Ende September, dass bis zu 15.000 vom Westen unterstützte und ausgebildete Rebellen benötigt würden, um die von der IS-Miliz kontrollierten Gebiete im Osten Syriens zurückzuerobern.

Türkei nahm Hunderte Kurden bei Rückkehr aus Kobane fest

Die türkischen Behörden haben indes nach eigenen Angaben an der Grenze zu Syrien Hunderte aus dem Bürgerkriegsland kommende Kurden festgenommen. Die 265 Festgenommenen würden zur Feststellung ihrer Identität festgehalten, sagte ein Behördenvertreter in der türkischen Grenzstadt Suruc am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP. Die Türkei sorgt sich vor einem länderübergreifenden Bündnis zwischen der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und den vor allem in Syrien aktiven kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG). Kämpfer beider Gruppierungen verteidigen Kobane. "Wer jetzt noch von der anderen Seite der Grenze herüberkommt, gehört entweder zur PKK oder zu YPG", sagte der Behördenvertreter.

Ein Kurden-Vertreter aus Kobane, Idris Nassan, sagte AFP, in der Nacht zum Mittwoch seien 350 Zivilisten aus Kobane bei der Überquerung der Grenze vom türkischen Geheimdienst festgenommen worden. Demnach werden die Flüchtlinge in zwei Schulen in Suruc festgehalten und drohen mit Selbstverbrennung, sollten sie nicht freigelassen werden.

Schweiz verbietet IS

Die Schweizer Regierung (Bundesrat) hat am Mittwoch außerdem entschieden, die Dschihadistengruppe "Islamischer Staat" (IS) zu verbieten. Sie verabschiedete am Mittwoch eine Verordnung, die am Donnerstag in Kraft tritt und auf sechs Monate befristet ist. Die Gruppierung "Islamischer Staat" begehe massive Verletzungen der Menschenrechte, schrieb das Schweizer Verteidigungsministerium (VBS) in einer Mitteilung. Aufgrund der Eskalation der vergangenen Wochen habe der Bundesrat entschieden, den IS und verwandte Organisationen zu verbieten.

Die Verordnung verbietet nicht nur sämtliche IS-Aktivitäten im In- und Ausland, sondern auch alle Aktionen, die deren materieller oder personeller Unterstützung dienen, beispielsweise Propaganda-oder Geldsammelaktionen oder das Anwerben neuer Mitglieder.

Zuwiderhandeln wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe geahndet, sofern nicht strengere Strafbestimmungen zur Anwendung kommen. Vermögenswerte der Organisationen können eingezogen werden.

Im Kampf gegen dschihadistische Propaganda im Internet setzt die EU-Kommission auf die Hilfe großer Internet-Konzerne wie Google, Facebook und Twitter. Innenkommissarin Cecilia Malmström wollte am Mittwochabend bei einem Abendessen in Luxemburg mit mehreren europäischen Innenministern und Vertretern der Konzerne zu dem Thema beraten, wie ein Kommissionssprecher in Brüssel sagte.

Unter anderem solle über "Instrumente und Techniken diskutiert werden, die es erlauben, auf terroristische Aktivitäten im Netz zu reagieren". Über konkrete Maßnahmen solle aber zunächst nicht diskutiert werden, sagte der Kommissionssprecher. Es gehe vielmehr um die Frage, wie private Unternehmen und die Regierungen zusammenarbeiten könnten. Am Donnerstag beraten die EU-Innenminister in Luxemburg über den Kampf gegen Dschihadisten und die Radikalisierung junger Europäer, die sich islamistischen Kämpfern in Syrien und im Irak anschließen.

Das Internet ist für dschihadistische Organisationen wie den IS ein wichtiges Propaganda-Werkzeug. Viele junge Europäer radikalisieren sich über das Internet, laut EU-Angaben sind bereits rund 3.000 junge Islamisten aus Europa nach Syrien oder in den Irak gereist. Internetkonzerne wie Twitter sperren bereits jetzt die Konten von Nutzern, etwa wenn diese zur Gewalt aufrufen.

Die Schlacht um die nordsyrische Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie eine hochgerüstete und rücksichtslose Miliz wie der "Islamische Staat" (IS) ihren Einflussbereich im Bürgerkriegsland Syrien ausweiten kann. Die Lage in der Stadt wirft auch ein Schlaglicht auf das Spiel der Machtinteressen im Hintergrund.

Rolle der Türkei

Heftig kritisiert wird unter anderem das Verhalten der Türkei. Obwohl die Regierung in Ankara über die mit 600.000 Mann zweitstärkste Streitmacht der NATO verfügt und zudem zusätzliche Truppen und Panzer an die Grenze bei Kobane verlegt hat, will sie bisher nicht in den Kampf um die Stadt eingreifen. Die türkischen Soldaten sollen lediglich das eigene Territorium verteidigen, falls es angegriffen wird.

Den Kurden in Kobane zur Hilfe eilen sollen die türkischen Truppen nicht, obwohl die Armee Ankaras in einer Auseinandersetzung gegen den IS mit ihrer hochgerüsteten Luftwaffe und ihrer Kampferfahrung aus dem langen Krieg gegen die kurdische Rebellenorganisation PKK wohl keine großen Schwierigkeiten hätte.

Es ist unter anderem eben jener Konflikt gegen die PKK, die Ankara zögern lässt. Kobane und die anderen Kurdengebiete in Nordsyrien werden von der Demokratischen Unionspartei (PYD) beherrscht, einem Ableger der PKK. Direkte Hilfe für Kobane wäre also gewissermaßen Hilfe Ankaras für die PKK und damit für die türkische Regierung innenpolitisch höchst riskant.

Kurdenpolitiker werfen der türkischen Führung vor, dem Sturm des IS auf Kobane auch deshalb tatenlos zuzuschauen, weil mit einer Eroberung der Stadt die kurdische Selbstverwaltung in der Region enden würde. Kurdische Autonomie sei aus Sicht der Türkei keine wünschenswerte Entwicklung vor der eigenen Haustür.

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Türkische Bedingungen

Ein stärkeres türkisches Engagement gegen den IS macht Ankara von einer Strategie-Änderung der USA abhängig: Erst wenn Washington die Luftangriffe in Syrien auf die Truppen des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad ausweitet, will Regierungschef Davutoglu die türkische Armee in Marsch setzen. Denn für die Türkei ist das Hauptziel in Syrien nicht die Zerschlagung des IS, sondern die Entmachtung Assads – mit dem die PYD einen Nichtangriffspakt haben.

Nicht nur die Türkei verfolgt in Syrien knallhart ihre eigenen Interessen. Die USA schauten drei Jahre lang dem Gemetzel im syrischen Bürgerkrieg zu und starteten die Luftangriffe auf den IS erst, als amerikanische Diplomaten und Ölfirmen im nordirakischen Erbil durch den Vormarsch der IS-Extremisten bedroht waren. Auch für die USA stehen die Kurden von Kobane nicht sehr hoch auf der Prioritätenliste.

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Keine Bodenoffensive

Bei anderen ausländischen Mächten sieht es nicht viel anders aus. Europäische Länder wie Großbritannien, Frankreich oder Deutschland beteiligen sich zwar mit Luftschlägen und Waffenlieferungen an die nordirakischen Kurden am Kampf gegen den IS, sind aber nicht gewillt, das Leben ihrer Soldaten bei einer Bodenoffensive gegen die Dschihadisten etwa in Kobane aufs Spiel zu setzen.

Zudem müssen sich die Europäer vorhalten lassen, zwar die Tragödie in Syrien zu beklagen, sich aber gleichzeitig zu weigern, etwa den Türken einen Teil der Last bei der Versorgung syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge abzunehmen. Insgesamt bietet die Türkei bisher rund 1,7 Millionen Menschen aus dem Nachbarland Unterschlupf. Allein in den vergangenen drei Wochen hat die Türkei mit rund 180.000 Syrern mehr Flüchtlinge aufgenommen als die ganze EU in drei Jahren.

Wenn es um die Wahrung eigener Interessen geht, stehen die Europäer und Amerikaner den Türken also in nichts nach.

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Die Situation der Menschen in und um Kobane ist dramatisch – und niemand greift ein", ist Manfred Nowak von den menschlichen Tragödien erschüttert, die sich im syrisch-türkischen Grenzgebiet abspielen. "Ich sehe auch keine Bereitschaft, egal, von wo – nicht von der Türkei, nicht von den USA –, sich ein UN-Mandat dafür zu besorgen", sagt der Professor für internationales Recht und Menschenrechte an der Uni Wien im KURIER-Gespräch. "Aber wir dürfen nicht zuschauen, wie Menschen hingeschlachtet werden", sagt Nowak. Wobei auch die Türkei nicht ohne UN-Mandat eingreifen dürfte, außer sie werde selbst angegriffen. "Aber ich glaube nicht, dass sich die IS-Kämpfer mit der Türkei und damit mit der NATO anlegen."

Die Verantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung liege bei allen 193 UN-Mitgliedsstaaten, so Nowak. Denn dazu haben sich alle 2005 verpflichtet – auf Drängen von Kofi Annan und dem Versagen aller im vorhersehbaren Völkermord in Ruanda und den ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im früheren Jugoslawien – allen voran in Srebrenica.

Eine Analyse, wieso niemand Kobane zu Hilfe kommt, lesen Sie hier.

Von einem "zweiten Srebrenica" will Nowak bei Kobane nicht sprechen, "weil wir nicht wissen, wie viele Zivilisten noch in der Stadt sind". Zudem sei Kobane – anders als Srebrenica, wo 1995 mehr als 7000 Bosniaken ermordet wurden – keine abgeriegelte Enklave.

Unabhängig davon sei die internationale Gemeinschaft zum Eingreifen verpflichtet. Denn seit 2005 gilt: "Wenn Völkermord oder schwere Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder ethnische Säuberungen drohen, muss die internationale Gemeinschaft seiner damals vereinbarten Schutzverantwortung für die Zivilbevölkerung nachkommen", erklärt Nowak.

In der politischen Realität ist die Sache komplizierter. Russland schützt bis heute das mit ihm verbündete Assad-Regime; im syrischen Hafen Tartus hat Russland seinen einzigen Militärstützpunkt am Mittelmeer. Und auch China würde eine derartige UN-Resolution blockieren. Daher hat kein Land versucht, ein UN-Mandat für eine Intervention zu bekommen. Nicht einmal der Einsatz von chemischen Waffen durch das Assad-Regime änderte etwas daran.

Kein Signal an Assad

Nowak: "In Wahrheit hätte die Weltgemeinschaft schon 2011 in Syrien eingreifen müssen – so wie sie es in Libyen mit UN-Mandat gegen das Gaddafi-Regime gemacht hat, das die eigene Bevölkerung bombardiert hat." Doch gerade Gaddafis Sturz, den Russland nicht wollte, brachte alles in der UNO zum Stehen. "Dabei hätte man dem Assad-Regime gleich zu Beginn etwa durch Wirtschaftssanktionen klar Einhalt gebieten müssen. Damals begann das Regime seinen Kampf gegen die eigene, noch friedlich demonstrierende Bevölkerung auf brutalste Weise", so Nowak. Das Stoppsignal kam nicht. "So ging Assad immer weiter und schreckte selbst vor dem Einsatz von Chemiewaffen nicht zurück."

Es mischten sich arabische Staaten und die USA ein, radikal-islamische Milizen gewannen an Terrain, das Netz der Akteure in Syrien wurde immer unübersichtlicher. Der Westen verfiel in Schockstarre. Bis zum raschen und brutalen Vormarsch der IS-Milizen im Irak. Spätestens als die Ölfelder und Raffinerien in Gefahr waren, schrillten im Westen die Alarmglocken. Luftangriffe folgten – ohne UN-Mandat, aber auf Ersuchen der irakischen Regierung.

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