Jung und mächtig: In Europas Norden haben Frauen das Sagen
16 Jahre lang hat Angela Merkel Deutschland geprägt wie kaum ein Regierungschef vor ihr. Wenn die konservative Langzeit-Kanzlerin nach den Bundestagswahlen im September abtritt, hinterlässt sie nicht nur in ihrer Heimat eine Lücke, sondern auch in der EU, deren Entwicklung sie maßgeblich mitbestimmt hat.
In Berlin ist Merkels Nachfolge bis dato ungeklärt und wird höchstwahrscheinlich von einem Mann angetreten. Auf EU-Ebene finden sich dagegen neben Kommissionschefin Ursula von der Leyen, die ebenfalls Deutsche ist, gleich drei Politikerinnen, von denen man noch einiges hören wird – und alle stammen aus dem hohen Norden: Mette Frederiksen, Sanna Marin und Kaja Kallas.
Linke mit rechten Parolen
Die Regierungschefinnen Dänemarks, Finnlands und Estlands sind nicht nur Zuhause beliebt; sie gelten auch im Rest Europas als Role Models.
Und das nicht etwa, weil sie es als ausnehmend junge Frauen an die Staatsspitze geschafft haben, sondern weil sie ihre Länder mit viel Geschick durch die Corona-Krise steuern.
Zuletzt machte besonders Mette Frederiksen (Bild) auf sich aufmerksam, die seit Juni 2019 in Dänemark regiert. Gemeinsam mit Bundeskanzler Sebastian Kurz flog die 43-jährige Sozialdemokratin vorigen Donnerstag nach Israel, um sich die dortige Impfstrategie erklären zu lassen. Frederiksen, Kurz und der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu streben eine gemeinsame Entwicklung von Corona-Impfstoffen an. Österreich und Dänemark wollen künftig unabhängiger von einer Beschaffung und Verteilung durch die EU werden.
Bereits vor der Israel-Reise hatte Frederiksen Nägel mit Köpfen gemacht und – was in der EU für Kritik sorgte – überschüssige Impfdosen aus Israel aufgekauft.
Auch zu Beginn der Pandemie hatte sie bewiesen, dass sie schnell reagiert, wenn es darauf ankommt: Dänemark war neben Österreich einer der ersten Staaten, die weitreichende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus ergriffen.
Politisch steht Frederiksen eigentlich links, die Zeitung Politiken bezeichnete die zweifache Mutter einmal als „Sozialdemokratin in vierter Generation“, die Arbeiterblut in ihren Venen habe.
Durch diese Venen fließt allerdings auch einiges an Populismus. Bei den letzten Wahlen schaffte es Frederiksen mit scharfer Migrationsrhetorik Wechselwähler von rechten Parteien zurückzuholen und – entgegen des europäischen Trends – die jahrelange Serie von Stimmenverlusten für die Sozialdemokraten zu stoppen. Jüngst sorgte die Premierministerin für Aufsehen, als sie ankündigte, die Zahl der Asylanträge in Dänemark auf null reduzieren zu wollen, um den „sozialen Zusammenhalt“ im Land nicht zu gefährden.
14 frei gewählte Regierungschefinnen gibt es derzeit weltweit. In Europa werden neben Deutschland, Dänemark, Finnland und Estland auch Litauen, Norwegen, Island und Serbien von einer Frau regiert.
1960 wurde die erste Frau Premierministerin einer frei gewählten Regierung, und zwar in Sri Lanka (damals Ceylon). Sirimavo Bandaranaike regierte verteilt auf drei Amtszeiten insgesamt 18 Jahre lang. Mächtige Regierungschefinnen, die die Weltpolitik prägten, waren auch Indira Gandhi (Indien), Golda Meir (Israel) oder Margaret Thatcher (Großbritannien).
Ebenfalls sozialdemokratisch, aber ohne rechte Töne, ist die Regierungschefin Finnlands, die 35-jährige Sanna Marin. Strahlend schön präsentiert sich die Mutter einer Tochter auf Instagram; streitbar und durchsetzungsstark ist sie in Parlament und Kabinett. Auch Marin engagiert sich seit ihren Teenagertagen politisch, für die Tochter einer alleinerziehenden, homosexuellen Mutter sind Gleichberechtigung und die Förderung von Vielfalt nicht nur Schlagworte.
Seit ihrem Amtsantritt im Dezember 2019 setzt Marin auf Transparenz und Kommunikation mit den Bürgern. Das und ihr Talent für Zwischenmenschliches trug dazu bei, dass Finnland die Corona-Krise bisher gut meisterte und es im Vergleich zu anderen Ländern nur wenige Corona-Skeptiker gibt. Maßnahmen zur Virus-Eindämmung wurden stets verständlich begründet, selbst für Kinder gab es zu Beginn der Pandemie eine live übertragene Pressekonferenz.
Erst jüngst drohte die Lage zu kippen, vor einer Woche verhängte Finnland den Ausnahmezustand, um im Kampf gegen Corona schnell agieren zu können.
So herausragend Marins Karriere angesichts ihres Alters hierzulande erscheinen mag – in Finnland ist sie nicht untypisch. Die derzeitige Regierung besteht aus fünf Parteien, alle werden von Frauen in ihren 30ern geführt.
An einem Strang ziehen
Eine gerechte Teilhabe von Frauen an der Macht ist auch der neuen estnischen Premierministerin Kaja Kallas ein Anliegen. Das Kabinett der Wirtschaftsliberalen besteht aus sieben Frauen und acht Männern. „Die Idee war es, eine Balance zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Erfahrung und Neuartigkeit herzustellen“, sagte die 43-jährige Mutter dreier Kinder bei ihrem Amtsantritt diesen Jänner.
Die Tochter des früheren EU-Kommissars Siim Kallas regiert mit der linksgerichteten Partei ihres Vorgängers Jüri Ratas, sie führt die traditionell pro-europäische, russland-kritische Politik ihres Landes fort.
Estland gilt seit vielen Jahren als IT-Vorreiter, selbst gewählt werden kann in dem baltischen Staat online. Kallas ist es daher ein Anliegen, auch den Rest Europas digital auf Vordermann zu bringen. Vorige Woche war sie eine von vier Regierungschefs, die Kommissionschefin von der Leyen in einem offenen Brief aufrief, eine Offensive zur Stärkung der „Digitalen Souveränität“ der EU zu starten. Ansonsten drohe diese hinter andere Mächten zurückzufallen. Die anderen drei Politiker, die ihre Unterschrift unter das Dokument setzten waren Sanna Marin, Mette Frederiksen und – Angela Merkel.
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