Juncker appelliert an ÖVP, "nicht Abschied von sozialen Ambitionen zu nehmen"

Juncker kämpft gegen Zerfallserscheinungen der EU an.
Der EU-Kommissionschef plädiert für eine Stärkung der sozialen Dimension Europas und lehnt Österreichs Kürzungspläne ab.

KURIER: Herr Präsident, der Festakt in Rom aus Anlass des 60. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge steht im Schatten des Terrors von London (siehe Seiten 6,7). Gibt es einen Grund zu feiern? Jean-Claude Juncker: Wir werden für eine relativ lange Zeit mit den terroristischen Bedrohungen leben müssen, aber das darf uns den Blick nicht verstellen, was es zu feiern gilt: Wir haben es geschafft, Europa zu einer Daueradresse für kontinentalen Frieden zu machen. Rom ist eine Familienfeier, bei der wir uns auf das besinnen, was uns zusammenbringt.

Was ist die Botschaft von Rom?

Es geht um Aufbruchstimmung. Wir werden uns aber auch mit Themen beschäftigen, die das Potenzial haben, uns auseinanderzudividieren. Was uns trennt, muss sehr klein gehalten werden.

Die Länder dividieren sich selbst auseinander, weil sie uneinig sind. Österreichs Bundeskanzler hat im KURIER-Gespräch seine Amtskollegen aufgefordert, vor der eigenen Türe zu kehren, gemeinsam die EU zu reformieren und kein Kommissions-Bashing zu betreiben. Das ist doch positiv für Sie – oder?

Es tut gut, dass ein Regierungschef die Kommission gegen Vorwürfe verteidigt, die fast täglich auf uns runterprasseln. Der Kanzler sagt, ,Brüssel sind wir alle’, er verweist auf die Verantwortlichkeiten aller Mitglieder. Unser Weißbuch zur Zukunft der EU zielt darauf, nicht zu diktieren, sondern über alle Szenarien zu reflektieren. Dass Kern diese offene Diskussion und Reflexion begrüßt, ist lobenswert. Seine Einsicht wünsche ich mir von allen.

Was sind nun die zentralen Aufgaben der EU für die Zukunft?

Wir haben uns einen Modernisierungsauftrag gegeben: Digitales Europa, Energieunion, Kapitalmarktunion. Bei der Migration müssen die Beschlüsse umgesetzt werden. Dazu kommt eine breit angelegte Grundsatzdebatte über ein soziales Europa. Für mich ist die mangelhafte Ausstattung der sozialen Dimension Europas einer der Schwachpunkte. Das entfernt die europäische Politik von den Bürgern. Ich will die Herzen der Menschen wieder gewinnen. Das geht nur, wenn wir nicht nur über Macht und Währungsunion reden, sondern über die direkten Bedürfnisse der Menschen in den Betrieben.

Nicht alle wollen ein sozialeres Europa. Ihre Schwesterpartei ÖVP lehnt eine Vertiefung ab. Die ÖVP sieht die Stabilisierung der Währungsunion und den Außengrenzschutz prioritär?

Europa ist zuständig für die Sicherheit der Europäer. Das ist kein Widerspruch zur besseren sozialen Ausstattung dieser Union. Es braucht einen Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten. Ich kann nur schwer nachvollziehen, dass eine christdemokratische Partei Abschied von sozialen Ambitionen nimmt. Zur Christdemokratie gehört auch, dass sie sich um den einzelnen Menschen kümmert.

Ist eine Anpassung der Sozialstandards machbar?

Wir können nicht alle Sozialstandards angleichen, man muss die besonderen Befindlichkeiten und Besonderheiten der Mitgliedsstaaten berücksichtigen.

Dann sind Österreichs Anliegen legitim, wie die Indexierung des Kindergeldes, der Beschäftigungsbonus und die fünfjährige Frist für EU-Ausländer bei der Mindestsicherung?

Ich bin diesen Forderungen gegenüber nicht positiv gesinnt. Ich bin nicht dafür, nehme aber die Debatte über den Transfer familienpolitischer Leistungen in Österreich und anderswo ernst. Die Kommission hat in ihren jüngsten Vorschlägen zur Koordinierung der nationalen Sozialsysteme die Indexierung ausgeschlossen. Man muss die Sache auch relativieren, so groß sind die Einsparungen nicht. Das führt nur zu zusätzlichem Bürokratieaufwand.

Zerreißt der Brexit die EU?

Der Brexit und andere Entwicklungen schärfen den Sinn für das Gemeinsame. Für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben ist jeder Nationalstaat zu schwach, um in der komplexen Welt zu bestehen. Wenn ich nicht Luxemburger wäre, würde ich vor Kleinstaaterei warnen.

Nationalisten und Rechtspopulisten wie der Front National von Le Pen, Vertreter der AfD oder der FPÖ haben künftig keine Chance?

Ich bin gegen radikale Rechtspopulisten, sie zerstören das Gemeinsame, weil sie nur sich selbst kennen und andere wegen ihrer Herkunft ablehnen. Wir müssen aber das Gespräch mit Europa-Skeptikern suchen und ihre Fragen beantworten.

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