"Jegliche Hemmschwellen sind in der Türkei gefallen"

In vielen deutschen Städten und in Wien kam es zu Solidaritätskundgebungen
Deutscher Journalist in U-Haft: Wegen Missachtung der Meinungsfreiheit hagelt es Kritik an Präsident Erdoğan. Europaweit lief eine Welle der Solidarität für Deniz Yücel an, auch in Wien.

"Schlecht, miefig, stinkt nach Körpergerüchen, stickig." So beschreibt der türkisch-deutsche Reporter der Welt die Situation in seiner Gefängniszelle. Seit 14 Tagen ist Deniz Yücel dort eingesperrt – bis zu fünf Jahre könnten es nach der Verhängung der U-Haft werden, ohne Prozess. Und das ganz legal. Stifte und Notizblock sind ihm verboten. Aber es wäre ohnehin zu dunkel, um zu lesen oder schreiben, wie der 43-Jährige seinem Anwalt diktierte. Dafür sei es nachts zu hell, um zu schlafen, ist dem Protokoll des Grauens zu entnehmen, das die Welt am Sonntag abgedruckt hat.

Autokorso in Wien

Dass Yücel trotz internationaler Appelle nun offiziell zum Kriminellen gestempelt wurde, hat eine Welle der Solidarität in Europa ausgelöst. Zumal die Vorwürfe sehr fadenscheinig sind: Dem Journalisten werden Terrorverbindungen und Volksaufwiegelung vorgeworfen, unter anderem wegen der Veröffentlichung gehackter eMails des Schwiegersohns von Präsident Recep Tayyip Erdoğan (siehe unten). Unter dem Motto #FreeDeniz fanden in zahlreichen deutschen Städten, darunter auch in Berlin, gestern Autokorsi statt. In Wien startete ebenfalls ein Konvoi vom Ernst-Happel-Stadion.

"Wir müssen jetzt starke Zeichen der Solidarität setzen. Einerseits um den inhaftierten Kollegen zu signalisieren: Ihr seid nicht alleine. Und den türkischen Behörden, dass wir das nicht akzeptieren", sagt Rubina Möhring, Chefin von "Reporter ohne Grenzen" in Österreich, zum KURIER. Ein geharnischter Protestbrief nach Ankara soll abgeschickt, hierzulande sollen Demonstrationen abgehalten werden. "Denn es ist unglaublich, was passiert. Der Fall Deniz beweist, dass in der Türkei jegliche Hemmschwellen gefallen sind", so Möhring. Sie vermutet, dass an dem Journalisten ein Exempel statuiert werden soll, eigentlicher Adressat sei aber Berlin und die Botschaft klar: "Passt auf, was ihr macht, sonst geht der Flüchtlingspakt flöten."

Angela Merkel: "Bitter"

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) reagierte denn auch eher verhalten. Sie bezeichnete die Verhängung der Untersuchungshaft als "bitter", "enttäuschend" und "unverhältnismäßig. Ihr Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) wurde klarer: Die Causa Yücel (er ist der erste Deutsche in türkischer U-Haft) "wirft ein grelles Schlaglicht auf die Unterschiede, die unsere beiden Länder offensichtlich bei der Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze haben". Sein Parteifreund Niels Annen sieht sogar eine Gefahr für die bilateralen Beziehungen. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz, der auch an anderer Front mit Ankara kämpft (siehe rechts), nannte die jüngste Entwicklung "nicht nachvollziehbar".

150 Journalisten in Haft

Die Lage für Journalisten hat sich im Land am Bosporus in den vergangenen Jahren bereits massiv verschlechtert. Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" reiht die Türkei in ihrer Liste der Pressefreiheit 2016 auf Platz 151 von 180 Staaten, zwischen Tadschikistan und der Republik Kongo. Seit dem Putschversuch hat sich die Situation nochmals dramatisch verschlimmert: Aktuell sitzen mehr als 150 Medienleute im Gefängnis, so viele wie in keinem anderen Land der Welt.

Am gefährlichsten leben türkische Journalisten, doch nun werden offenbar auch Auslandskorrespondenten, von denen viele eine Doppelstaatsbürgerschaft haben, ins Visier genommen. Das bestätigt indirekt der ORF-Mann in Istanbul, Jörg Winter. 400 seiner Zunft sind insgesamt in der Türkei akkreditiert. Und vor dem Verfassungsreferendum, mit dem sich Erdoğan umfassende Machtbefugnisse sichern will, hat "seine" Regierung die Zügel nochmals angezogen. Ein Viertel der Korrespondenten hat noch keine Presse-Karte, womit ihre Berichterstattung über den Volksentscheid massiv beeinträchtigt ist.

"Wir sind immer nur die Speerspitze der Meinungsfreiheit und an vorderster Front", sagt der Vorsitzende der österreichischen Journalistengewerkschaft Franz C. Bauer zum KURIER, "in Wahrheit geht es aber darum, das ganze Land mundtot zu machen."

"Präsidialdiktatur"

Die Türkei sieht Bauer auf dem Weg in eine "Präsidialdiktatur". Alle bisherigen Interventionen und Proteste seien von Erdoğan abgeschmettert worden. Deswegen drängt der Gewerkschafter wie zuvor bereits das Europaparlament und Sebastian Kurz darauf, die Beitrittsgespräche mit Ankara auf Eis zu legen: "Wie soll man denn mit einem Land verhandeln, das die europäischen Werte mit Füßen tritt?!"

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