Vormarsch der Dschihadisten ruft USA und Iran auf den Plan

Kurdische Sicherheitskräfte gehen vor der Stadt Kirkuk in Stellung. Sie befürchten einen Angriff der islamistischen ISIL-Kämpfer (rechts oben deren Chef Abu Bakr al-Baghdadi).
Der Feind meines Feindes ist mein Freund: In den vorrückenden Islamisten haben Washington und Teheran einen gemeinsamen Gegner.

Es war die "Operation Iraqi Freedom" 2003: die USA unter Präsident George W. Bush, gezeichnet von den Anschlägen des 11. September 2001, behaupteten, Beweise für Massenvernichtungswaffen im Irak zu haben und marschierten – unter Protesten in aller Welt – im Irak ein. Massenvernichtungswaffen fanden sie keine, und mit dem Aufbau eines funktionierenden Staates waren die USA und ihre Verbündeten längst noch nicht fertig, als sie 2011 wieder abzogen. Sie hinterließen eine gesellschaftlich und religiös zerrissene Gesellschaft.

Es dauerte nicht lange, da rollte eine Anschlagswelle an. Die Regierung in Bagdad, die von radikalen schiitischen Parteien dominiert wird, distanzierte sich zunehmend von den Sunniten. Diese fühlten sich politisch kaum vertreten. Sie demonstrierten für mehr Mitbestimmung – wurden aber übergangen. Radikale unter ihnen meldeten sich gewalttätig zurück. Anschlagsserien waren die Folge.

Schließlich kam die radikal-islamische ISIL-Miliz ("Islamischer Staat im Irak und in der Levante") und wurde von Teilen der sunnitischen Bevölkerung mit offenen Armen empfangen. Sie hat in den vergangenen Tagen im Norden und Westen große Teile des Landes eingenommen.

Und Washington?

Präsident Barack Obama und sein Sicherheitsteam rangen auch am Freitag noch um ihre Rolle in der Bekämpfung der Islamisten. Die irakische Regierung hatte Washington gebeten, Luftschläge gegen die Dschihadisten im Irak vorzubereiten – das war aber nicht gestern, als die ISIL nur noch wenige Kilometer vor der Hauptstadt Bagdad stand, sondern im Mai.

Während sich Obama, der sich als Präsident des Rückzugs sieht und Angriffe nur im äußersten Notfall anordnet, noch sträubte, hatten die Dschihadisten im Irak weiter mobil gemacht, bis die Eskalation auch in der Westlichen Welt sichtbar geworden ist. Gestern erklärte Obama dann in einer Pressekonferenz, dass die USA keine Truppen in den Irak senden würden. "Wir können es nicht für sie machen", sagte er mit Blick auf die irakischen Sicherheitskräfte, die mit dem Vormarsch der ISIL überfordert sind. Die USA hätten aber eine "Reihe anderer Optionen".

Waffenlieferungen und Geheimdienstkooperation, sowie Ausbildung für die Armee sind auch nach dem Abzug selbstverständlich. Über weitere Militärhilfen im Umfang von einer Milliarde Dollar berät der Kongress gerade.

Laut Berichten im Wall Street Journal gab es im Vorjahr Aufklärungsflüge von US-Drohnen, die die Bewegungen der Dschihadisten im Irak beobachten sollten. Gesehen hat man offenbar nur wenig. Die USA ebenso wie das irakische Regime wurden vom Vorstoß der ISIL in den vergangenen Tagen völlig überrumpelt.

Innenpolitisch steht Obama immer mehr unter Druck: Die Republikaner greifen den Präsidenten jetzt für seinen Irak-Abzug an, vor dem sie bereits vor Jahren gewarnt hatten. Die aktuelle Entwicklung wäre zu verhindern gewesen, glaubt der republikanische Senator John McCain. Und die ISIL sei eine "direkte Bedrohung" für Amerika.

Iranische Hilfe

Aber nicht nur bei den USA suchte die von Schiiten dominierte irakische Führung Unterstützung, auch beim schiitischen Iran. Laut Wall Street Journal habe Teheran drei Bataillone seiner Revolutionsgarden geschickt, um die ISIL-Dschihadisten gemeinsam mit den irakischen Truppen zurückzudrängen. Teheran sieht seine Sicherheit eng mit der des Nachbarn verbunden.

Leidtragende der Kämpfe sind vor allem die Zivilisten. Mehrere Hundert könnten laut UN in den vergangenen Tagen getötet worden sein, Tausende verletzt. Mehr als 500.000 sind geflohen.

Vormarsch der Dschihadisten ruft USA und Iran auf den Plan

Auf den internationalen Ölmärkten haben die Kämpfe im Irak große Nervosität ausgelöst. Immerhin verfügt das Land über die zweithöchsten Ölreserven der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) nach Saudi-Arabien.

Aus dem Norden des Irak wird nach Schätzung von Ölanalysten für absehbare Zeit kein Ölexport mehr möglich sein. Die großen Lieferungen allerdings laufen über die südirakische Hafenstadt Basra, wo täglich noch 2,6 Millionen Fass (je 159 Liter) des schwarzen Goldes umgeschlagen werden.

Wann und wie viel dieser Ausfuhren wegfallen, ist ungewiss. Der Ölpreis aber reagiert seit Tagen mit einem kräftigen Anstieg. Die Nordseeölsorte Brent ist am Freitag kurzfristig auf knapp 114 Dollar je Fass und damit den höchsten Stand seit neun Monaten geklettert. Unterstützt wird der Preisauftrieb durch die bevorstehende Urlaubszeit, die die Sprit-Nachfrage steigert.

Nach dem Vorstoß der syrisch-irakischen Islamisten-Miliz ISIL im Nordirak rücken die Kurden in der gesamten Region zusammen. Viele sehen jetzt gar eine historische Chance, ihr nationales Projekt energisch voranzutreiben. Gerade in der Türkei machen dieser Tage in den sozialen Netzwerken Postings die Runde, wonach man der autonomen Verwaltung der nordirakischen Kurden zu Hilfe eilen müsste, sollte ISIL diese angreifen.

Sogar die alte Vision eines Groß-Kurdistan wird laut ventiliert. "Wir sollten jetzt endlich den Kurdischen Nationalkongress abhalten", sagt ein kurdischer Journalist in Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt der türkischen Kurden. Diese Versammlung von Kurden-Vertretern der Türkei, Syriens, des Iraks und des Irans wird seit mehr als einem halben Jahr verschoben.

Es ist vor allem der von Ankara 2012 eingeleitete Friedensprozess mit der Kurden-Guerilla PKK, der in Diyarbakir vielen sauer aufstößt. Nicht nur, dass es keine Fortschritte gebe, wird kritisiert, die Regierung habe ihn sogar hintertrieben. Gut befestigte Gebäude des Sicherheitsapparats seien errichtet worden, dazu 500 neue Checkpoints. Viele sehen darin Vorbereitungen für eine militärische Aktion. Der Stillstand und die wirtschaftliche Misere machen für junge Leute den Weg in die Berge, wie man jene nennt, die sich der PKK anschließen, wieder attraktiv.

Wobei das Projekt "Groß-Kurdistan", also der Zusammenschluss aller Kurden zu einem eigenen Staat, wohl unrealistisch ist.

Grenzen ändern

Die Argumentation der Befürworter: Wenn im Irak und in Syrien die Grenzen möglicherweise verschoben werden, warum dann nicht auch gleich im Iran und der Türkei? Doch selbst engagierte Kurden in der Türkei sind skeptisch. Sie verweisen darauf, dass ein Drittel ihres Volkes (insgesamt knapp 20 Millionen) nicht im Südosten des Landes lebt, allein in Istanbul sollen es drei Millionen sein.Der türkische Premier Tayyip Erdogan hat zu der autonomen, erdöl- und erdgasreichen Kurden-Provinz im Nordirak ein pragmatisches Verhältnis aufgebaut. Doch eine zweite kurdische Selbstverwaltung vor der Haustüre, in Syrien, wollte Erdogan partout verhindern, deswegen unterstützte er islamistische Kämpfer in dieser Region. Diese "dankten" es ihm jetzt damit, dass sie Dutzende türkische Staatsbürger als Geiseln nahmen. Vielleicht findet er nach diesen Ereignissen auch einen pragmatischen Zugang zu den Kurden im eigenen Land. Zumal er sie braucht: Bei den Präsidentschaftswahlen ist er auf deren Stimmen angewiesen. Und bei einer etwaigen Verfassungsänderung, die ihm als Staatsoberhaupt umfassende Machtbefugnisse einräumen soll, ebenfalls.

Wobei ein solcher Deal einen Beigeschmack hätte: Die Kurden als Steigbügelhalter für ein (noch) autoritäreres Regime im Westen im Austausch für eine Art von Selbstbestimmung im Südosten der Türkei.

Erst kommen die radikal-islamischen Kämpfer der Terrorgruppe "Islamischer Staat im Irak und in Syrien" (ISIL) – und dann folgen sofort ihre Schreckensvorschriften. Alle irakischen Städte, die in den vergangenen Tagen von den ISIL-Dschihadisten erobert wurden, erhielten sogleich Verhaltensregeln mit drakonischen Strafen. So etwa werden alle Iraker mit dem Tod bedroht, die sich nicht offiziell von den Institutionen des irakischen Staates – also Polizei, Armee und Behörden – lossagen. Auch die Stammesführer in der Region warnt die ISIL in einem 16 Punkte umfassenden Programm, das dem deutschen Spiegel vorlag, "mit dem abtrünnigen Feind oder den Verrätern zu kollaborieren".

Den Kämpfern der ISIL schwebt die Wiederrichtung eines islamischen Kalifats vor – und dafür haben gleich einmal alle Frauen aus der Öffentlichkeit zu verschwinden. Nur wenn es unbedingt notwendig sei, sollen Frauen von nun an die Häuser verlassen dürfen, heißt es. Eine ähnliche Regel hatten einst auch die radikal-islamischen Taliban ausgegegeben – was dazu führte, dass Frauen praktisch außer Haus nicht mehr arbeiten durften. Die Folge: Massenverelendung von Familien, besonders in jenen, wo die Väter oder Ehemänner gestorben waren. Die Regel war so extrem, dass sogar die Taliban sie wieder aufheben mussten. Außerdem haben Frauen von nun an nur noch Kleidung zu tragen, "an der Gott Gefallen findet" – also weite Gewänder, die alle weiblichen Formen verhüllen.

Kulturdenkmäler zerstören

Versammlungen, die nicht von der ISIL veranstaltet werden, sind verboten. Untersagt sind ebenso Alkoholkonsum, Rauchen und Drogen. Auch alle Kulturdenkmäler und Schreine sollen zerstört werden – verheerend in einer Region, wo immer wieder Relikte aus Frühkulturen gefunden werden.

In einem ISIL-Schreiben an die Bevölkerung, herausgegegeben vom "Pressebüro der Provinz Ninive des Islamischen Staates", heißt es: "Ihr habt alle säkularen Systeme ausprobiert und ihr habt unter ihnen gelitten. Jetzt ist das Zeitalter des islamischen Staates gekommen."

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