In Camerons Team rüsten sich EU-Gegner

David Cameron
Am 23. Juni wird Großbritannien über den EU-Austritt abstimmen. Die EU-Gegner machen bereits gegen den in Brüssel erzielten Kompromiss mobil.

Stundenlang hatte der britische Premier die Kameras vor der Downing Street Nummer 10 warten lassen. Die PR-Berater warteten ein Lichten in der Wolkendecke ab, um sicherzugehen, dass kein Regenguss die Verkündung des 23. Juni als Termin der Brexit-Abstimmung trübte. Schließlich wagte Cameron sich dann doch noch mit unbedeckter Föhnwelle unter den freien Himmel. "Ich liebe nicht Brüssel, ich liebe Britannien", versicherte er den Wählern. Und empfahl erst recht, im Sinne der ökonomischen und nationalen Sicherheit für den Verbleib in der Union zu stimmen.

Auf dem Weg zur vorangegangenen Kabinettssitzung hatte ein Minister nach dem anderen die obligate Versammlung des johlenden Journalistenmobs passiert. "Are you a Remainian?" rief dabei einer der Schreiberlinge Innenministerin Theresa May zu, und schon war ein neuer Spottname im britischen Politjargon etabliert: "Remain", das heißt "bleiben". Mit der Nachsilbe "-ian" versehen, klingt es aber eindeutig nach "rumänisch" und bedient so populäre Verschwörungsängste, wonach Großbritanniens Pro-EU-Lobby in einem Pakt mit finsteren kontinentalen Kräften stehe. Nachdem Britanniens Presse und Politik Brüssel nun schon seit Thatchers Zeiten beständig als Hort aller Unfreiheit präsentieren, muss den Briten David Camerons neugefundener Enthusiasmus für "eine führende britische Rolle" in Europa wohl auch suspekt erscheinen.

Erinnerung an 1939

"Wer wird für England sprechen?" hatte das Boulevardblatt Daily Mail schon nach seinen Vorgesprächen mit EU-Ratspräsident Donald Tusk getitelt und damit Erinnerungen an 1939 geweckt, als sich britische Abgeordnete über Fraktionsgrenzen hinweg gegen den vor Hitler zögernden konservativen Premierminister Neville Chamberlain verbündeten. Dass die EU in dieser Analogie mit dem Dritten Reich am Anbruch des Zweiten Weltkriegs verglichen wurde, sagt doch einiges über die Stimmung in Großbritannien aus.

Justizminister Michael Gove, übrigens Ehegatte einer streitbaren Kolumnistin derselben Zeitung, folgte nun gestern dem Ruf des Blatts und deklarierte sich als das höchstrangige von sechs Regierungsmitgliedern, die beim Referendum am 23. Juni gegen ihren eigenen Chef stimmen werden. Kurz darauf erzählte schon Chris Grayling, Parlamentsvorsitzender der Tories der BBC, warum er auf jeden Fall ebenfalls für den Austritt stimmen werde.

Cameron selbst bekannte sich als "enttäuscht, aber nicht überrascht" über jene Entscheidung seines engen Freundes Gove, während Rupert Murdoch, der australische Verleger der Times und des mächtigsten Boulevardblattes The Sun dem Rebellen per Twitter gratulierte. Goves Freunde, so Murdoch, hätten "immer schon gewusst, dass seine Prinzipien persönliche Freundschaften überwinden würden."

Auch Labour halbherzig Pro-Europa

Wie seit Längerem absehbar, ist es Cameron also mit seinem Brüsseler Stunt nicht gelungen, die europhobe britische Presselandschaft für sich zu gewinnen. Einzig der linksliberale Guardian, der Labour-affine Daily Mirror und der kurz vor der Einstellung stehende Independent stehen auf der Pro-Seite der Kampagne.

Für den Premier ein genauso schwacher Trost, wie auch das halbherzige Bekenntnis zur EU vonseiten des Labour-Chefs Jeremy Corbyn, der zugleich den von Cameron ausverhandelten Deal als "irrelevant" und "eine Nebenattraktion" abkanzelte. Gleiches könnte man allerdings auch von Corbyn selbst behaupten, denn alle Augen ruhen nun auf dem Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der offen auf den Platz seines alten Studienkollegen an der Regierungsspitze schielt und nun seinen potenziellen Churchill-Moment wittert.

Schließlich hat Cameron seinen parteiinternen Rivalen noch vor den letzten Unterhauswahlen versprochen, seine zweite Amtsperiode würde auch seine letzte sein. Mit einem "Nein" zur EU würde Johnson den Abstimmungswahlkampf augenblicklich zur Nachfolgeschlacht umfunktionieren. Zumindest die Buchmacher spekulierten am Samstag, dass so ein Coup die Volksmeinung entscheidend in Richtung Brexit schwingen lassen würde. Johnsons Alternative wäre, Loyalität zu demonstrieren und eine bessere Absprungsgelegenheit abzuwarten.

Als David Cameron nach getaner Rede zum Schweigen der Presse wieder hinter der schwarzen Tür verschwand, sah er jedenfalls ziemlich einsam aus.

Drama und Erpressung hin oder her – die Inszenierung des Gipfels war ganz sicher ein Kunststück von Verhandlungstechnik und trickreicher Manipulation am EU-Vertrag. Das Ringen um einen Briten-Deal hat den Zustand der EU offengelegt. Das Ergebnis ist der Beginn eines politischen Erosionsprozesses, der Anfang vom Ende eines Europas, das sich Jahrzehnte bewährt hat. Mit den Zugeständnissen gegenüber den Briten, der Preisgabe der sozialen Dimension, ist das alte Europa passé.

Es verabschiedet sich von seinem Ziel einer immer geschlosseneren Union und gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Die Sozialunion bleibt ein Traum, der Wettlauf, wer Kindergeld und Mindestlöhne noch weiter kürzt, beginnt jetzt. Einig sind sich ja wohl alle, dass sozialer Missbraucht bekämpft werden muss. Rütteln am sozialen Frieden wird Europa nicht stärker, sondern schwächer machen.

Aber: Um das Projekt zu retten – es geht ja nicht nur um Soziales, sondern um den Binnenmarkt –, braucht es dringend das Europa der mehr Geschwindigkeiten, Bundeskanzler Werner Faymann hatte diese Entwicklung bereits in einem KURIER-Interview angekündigt. Deutschland, Frankreich und Benelux, die Gründerstaaten der EU, plus einige neuer Mitglieder, könnten den Kern bilden. Überzeugte Europäer, Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Parlamentspräsident Martin Schulz, sollten ein Konzept für ein neues Europa auf den Tisch legen. Ihre Energie wäre dafür besser eingesetzt als für Ausnahmeregelungen. Nach dem Gipfelmarathon dringen immer mehr Informationen durch. Der Brief von Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos an Innenministerin Johanna Mikl-Leitner geht auf eine Initiative Berlins zurück, wurde der Kommission diktiert.

Bundeskanzlerin Angela Merkel lehnt Österreichs Obergrenzen und das Durchwinken von 3200 Flüchtlingen nach Deutschland ab. Bereits vor dem EU-Gipfel kam es beim Treffen der Europäischen Volkspartei (EVP) im Hotel Sofitel zum Eklat zwischen Vizekanzler Reinhold Mitterlehner und Merkel. Seit Längerem wird in der EVP das doppelbödige Treiben der ÖVP in der Flüchtlingsfrage mit Kopfschütteln registriert, vor allem der Kurs von Mikl-Leitner und Außenminister Sebastian Kurz ("Der Kurz sagt vieles"; O-Ton eines hohen deutschen Politikers in Brüssel).

Unglücklich über die österreichische ÖVP ist auch Merkel-Vertrauter Elmar Brok, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses im EU-Parlament. Merkel pocht weiter auf eine europäische Flüchtlingslösung. Nationale Maßnahmen befreundeter Länder wie Österreich desavouieren aber ihren Kurs und das Ziel, mit der Türkei eine Einigung zu erreichen. Beim Gipfel musste sich Bundeskanzler Faymann Kritik anhören. EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte Faymann, dass er Österreichs Grenzmanagement (nur 80 Asylanträge pro Tag) verstehe, aber der Zeitpunkt der Bekanntgabe der Maßnahme vor dem Gipfel war unglücklich und beeinflusste die Flüchtlingsdebatte negativ.

Trotz der Querschüsse von Kammerpräsident Christoph Leitl (die ÖVP solle die Koalition verlassen und eine Minderheitsregierung bilden) blieb Faymann in Brüssel hart, er weiß in der Flüchtlingspolitik die Regierung hinter sich. Verpufft scheint der Kommissionsbrief an Mikl-Leitner zu sein. "Der Brief wurde an die falsche Adresse geschickt", antwortete sie.

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