Gezi-Demonstranten vor Gericht

Das Verfahren in Istanbul war schon vor Beginn heftig umstritten.

Wir werden dort sein“ – mit dieser Parole haben sich mehrere Gruppen und Verbände in der Türkei für Donnerstag zu einer Solidaritätskundgebung vor dem Istanbuler Justizpalast angesagt. In dem riesigen Neubau im Stadtteil Caglayan beginnt der Prozess gegen 26 mutmaßliche Organisatoren der Gezi-Proteste im vergangenen Jahr. Das Verfahren ist schon jetzt heftig umstritten, nicht zuletzt deshalb, weil die türkische Justiz mit großem Eifer tausende Gezi-Demonstranten im ganzen Land vor Gericht bringt, bei der Verfolgung mutmaßlicher Polizei-Übergriffe während der Proteste aber eine merkwürdige Lethargie an den Tag legt.

Bis zu 17 Jahre sollen die Istanbuler Angeklagten laut Staatsanwaltschaft ins Gefängnis, unter anderem wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Prominenteste Beschuldigte ist Mücella Yapici, die Generalsekrtetärin der Istanbuler Architektenkammer. Yapici ist ein führendes Mitglied von „Taksim Solidarität“, eines Dachverbandes der Gezi-Protestbewegung, und gehörte im Juni 2013 zu einer Abordnung von Demonstranten, die bei einem Gespräch mit Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan einen Ausweg aus der Krise suchten.

Yapici und die anderen Angeklagten von „Taksim Solidarität“ sind stolz auf ihren Einsatz zur Rettung des kleinen Gezi-Parks in der Istanbuler Innenstadt. Schon lange vor dem Beginn der Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten in dem Park Ende Mai vergangenen Jahres hatten sie gegen Erdogans Pläne zum Wiederaufbau eines osmanischen Kasernenbaus auf dem baumbestandenen Gelände protestiert.

Die Anklage sieht in ihrem Engagement aber keinen Ausdruck von Bürgersinn, sondern den Versuch zur Aufwiegelung. Allzu viel Mühe gaben sich die Staatsanwälte bei der Beweisführung allerdings nicht. Eine erste Anklageschrift wurde vom zuständigen Gericht zurückgewiesen, weil die Anklage bei ihrem Hauptvorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung nicht einmal erläutert hatte, welches Ziel diese angebliche Vereinigung eigentlich verfolgt haben soll.

Keine Beweise

Nach wie vor gebe es keine Beweise für eine direkte Verwicklung der Angeklagten in gewalttätige Auseinandersetzungen, kritisierte Amnesty International (AI). Die Strafforderung basiere auf der bloßen Anwesenheit der Beschuldigten bei Protestaktionen und deren Mitgliedschaft in „Taksim-Solidarität“.

Mitglieder der Protestbewegung halten das Verfahren deshalb schon jetzt für einen politischen Schauprozess. Die Erdogan-Regierung wolle „Taksim-Solidarität“ unbedingt als kriminelle Bande abstempeln lassen, erklärte die Istanbuler Ärztekammer, deren Generalsekretär Ali Cerkezoglu ebenfalls unter den Angeklagten ist. Erdogan hat die Mitglieder der Protestbewegung als Plünderer und Randalierer beschimpft, deren Ziel es gewesen sei, die demokratisch gewählte Regierung zu stürzen.

Insgeamt müssen sich laut AI mehr als 5500 Menschen in der ganzen Türkei wegen Teilnahme an den Gezi-Protesten des vergangenen Sommers vor den Gerichten verantworten. Dagegen blieben Straftaten der Sicherheitskräfte weitgehend ungeahndet, kritisierte AI. So ist bis heute nicht geklärt, welcher Polizist die Trännegaskartusche abschoss, die im Juni vergangenen Jahres in Istanbul den 14-jährigen Jungen Berkin Elvan am Kopf traf; Elvan fiel ins Koma und starb nach mehreren Monaten. Insgesamt wurden bei den Protesten acht Menschen getötet, weitere 8000 wurden verletzt.

Während die Prozesswelle gegen die Gezi-Demonstranten rollt, sieht es bei Verfahren gegen Polizisten recht dürftig aus. Trotz mehrerer hundert Strafanzeigen wegen Polizei-Brutalität stehen nur fünf Beamte vor Gericht. Besserung ist nicht in Sicht: Erdogan lobte das rücksichtslose Vorgehen der Sicherheitskräfte ausdrücklich als „Heldenepos“.

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