Jean Ziegler sieht "Totalskandal" in Ungarn

Der Schweizer Soziologe und Globalisierungskritiker Jean Ziegler kritisiert die Machtstrukturen im UN-Sicherheitsrat
Für den früheren Sonderberichterstatter ist die UNO eine "jämmerliche Weltmacht".

Die Situation an der ungarisch-serbischen Grenze, wo die ungarische Regierung wegen der Vielzahl an ankommenden Flüchtlingen einen 175 Kilometer langen Zaun bauen lässt, ist ein "Totalskandal" und "Totalbruch des Völkerrechts". In der Flüchtlingsdebatte haben aber nach Ansicht des Schweizer Globalisierungskritikers Jean Ziegler auch die gesamte EU und die Vereinten Nationen versagt. Letztere bezeichnet Ziegler im Gespräch mit der APA als "jämmerliche Weltmacht".

"Die Respektierung aller Menschenrechte ist Bedingung für die EU-Mitgliedschaft."

Das Recht, in einem anderen Land einen Asylantrag zu stellen - also Schutz zu verlangen, wenn man aus rassistischen, politischen oder religiösen Gründen verfolgt wird -, ist ein universelles Menschenrecht, das durch die UNO-Flüchtlingskonvention von 1952 festgeschrieben ist. "Das ist absolut" und steht über jeder anderen nationalen oder internationalen Rechtsnorm, erklärt Ziegler. Durch die Errichtung des Grenzzauns werde dieses jedenfalls grob verletzt. "Und die EU reagiert nicht", empört er sich. Seiner Meinung nach muss Brüssel alle Sanktionsmöglichkeiten ausschöpfen. "Die Respektierung aller Menschenrechte ist Bedingung für die EU-Mitgliedschaft."

Ziegler: Vorläufiges Asyl

Dass die Weltgemeinschaft, insbesondere Europa, mit der Flüchtlingsproblematik überfordert ist, versteht Ziegler und plädiert deshalb für automatisches, vorläufiges Asyl für Schutzbedürftige aus Kriegszonen - so lange der Konflikt dauert. Wie das die Konvention übrigens auch vorsieht. Das heißt, "provisorische Kollektivaufnahme" für Syrer - ohne individuellen Asylprozess. Vor allem die langwierigen bürokratischen Vorgänge im Asylverfahren sind dem Experten ein Dorn im Auge.

"Die UNO ist in Syrien seit viereinhalb Jahren unfähig, irgendeine Völkerrechtsnorm durchzusetzen."

Ebenso untätig wie die EU erlebt der Schweizer, der in seinem aktuellen Buch "Ändere die Welt" (C. Bertelsmann Verlag) zum Sturz der "kannibalistischen Weltordnung" aufruft, die UNO. "Fürchterlichen Kriegen" wie jenen in Syrien, in Darfur oder im Gazastreifen habe die internationale Gemeinschaft nichts entgegenzusetzen. So habe der Sicherheitsrat es in Syrien zwar "x-mal versucht", sei aber eben genauso oft "komplett gescheitert". "Die UNO ist in Syrien seit viereinhalb Jahren unfähig, irgendeine Völkerrechtsnorm durchzusetzen", kritisiert der emeritierte Genfer Universitätsprofessor für Soziologie. Und das, obwohl die Vereinten Nationen vor genau 70 Jahren mit dem Ziel gegründet wurden, um die kollektive Sicherheit auf der Welt herzustellen und Kriege zu verhindern. Ziegler spricht deshalb von einer "Lähmung" der UNO.

Vetomacht als Problem

Schuld daran seien die Machtstrukturen innerhalb der Vereinten Nationen und die damit verknüpften Eigeninteressen der Nationalstaaten. Im Falle Syriens "lähmte" Russland als eine der fünf Vetomächte in den vergangenen Jahren praktisch alle der Resolutionen. Ziegler, selbst langjähriger UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, plädiert deshalb für eine "radikale" Änderung der Strukturen und bewirbt energisch den "Kofi-Annan-Plan", der zwar seit 2006 existiert, sich aber bis heute nicht durchsetzen konnte. Demnach darf das Veto zum Beispiel nicht in einem Konflikt eingesetzt werden, in dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden.

"Was jetzt weltweit passiert, beunruhigt auch die Großmächte."

Doch ist Veränderung in Sicht? Durchaus, meint Ziegler. "Was jetzt weltweit passiert, beunruhigt auch die Großmächte", schildert er seine persönlichen Beobachtungen in den Vereinten Nationen - er selbst ist derzeit Mitglied des Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats. "Ich sehe unglaubliche Unruhe innerhalb der UNO, auch bei den europäischen Diplomaten. Wenn der Annan-Plan jetzt nicht realisiert wird, zerfällt die UNO."

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