"In Libyen herrscht komplette Anarchie"

Migranten zwischen den Fronten rivalisierender Milizen und Soldaten.

Jeder Typ in meinem Alter hat dort eine Waffe", sagt der 20-jährige Djiby Diop. Der Senegalese verbrachte drei Monate in Libyen, ehe er es auf einen der überfüllten, kaputten Kähne für die Überfahrt nach Europa schaffte. Der junge Mann überlebte und befindet sich derzeit auf dem südlichsten italienischen Außenposten, auf der "Flüchtlingsinsel" Lampedusa.

"Wo ist dein Geld?"

"Wenn du mit ihnen (den Libyern) nicht zusammenarbeitest, erschießen sie dich. Wenn du ihnen nicht all dein Geld gibst, erschießen sie dich. Oder sie erschießen dich einfach aus Spaß", gibt Diop im Interview mit der britischen Zeitung The Telegraph zu Protokoll.

Seine Aussagen werden von anderen schwarzafrikanischen Migranten bestätigt, die über den "gescheiterten Staat" Libyen in die EU kamen. Sekou Balde erzählt von einer Razzia von Soldaten in der Unterkunft nahe Tripolis. "Sie schrien, wo ist dein Geld? Ich erwiderte, ich habe keines mehr. Dann stürzten sie sich auf mich", so der Flüchtling, der die erlittenen Stichwunden auf seinem Körper zeigt, "meinen Bruder haben sie vor meinen Augen erschossen, zwei meiner Freunde ebenso."

"Es herrscht komplette Anarchie in Libyen", untermauert der Sprecher der Internationalen Organisation für Migration, Flavio Di Giacomo, "es ist sehr gefährlich für Migranten. Vor allem für Afrikaner, die aus Regionen südlich der Sahara stammen. Diese gelten nicht als menschliche Wesen und werden schlechter behandelt als Tiere."

Nach dem Sturz des libyschen Machthabers Gaddafi versinkt das Land tatsächlich im Chaos. Derzeit rittern zwei Regierungen um die Macht im Staat: eine islamistische, die ihren Sitz in der Hauptstadt Tripolis hat, und die vom Westen anerkannte, die in die Stadt Tobruk fliehen musste. Daneben kämpfen zahlreiche Milizen und diverse Clans, um sich ihren Teil des Kuchens zu sichern.

IS auf dem Vormarsch

Zuletzt machten Extremisten, die sich zum "Islamischen Staat" (IS) bekennen, auf sich aufmerksam. Von ihrer Hochburg Derna hatten sie sich aufgemacht und die Geburtsstadt von Gaddafi, die wichtige Hafenstadt Sirte, erobert.

Trotz dieser Wirren und lebensgefährlichen Umständen riskieren Tausende via Libyen den Trip nach Europa. 8000 kamen seit Jahresbeginn nach Italien, Rom rechnet mit 200.000 bis Jahresende.

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