Europas großes Poker-Spiel um Spitzenjobs ist eröffnet

Die Fäden zieht Kanzlerin Merkel. Lange Verhandlungen drohen. Die Amtszeit der EU-Kommission könnte verlängert werden.

Die Karten wurden mit der Europa-Wahl neu gemischt, doch wer die Karten für die Top-Jobs zieht, werden die Verhandlungen in den nächsten Wochen oder Monaten zeigen. Neu besetzt werden folgende Ämter: Kommissionspräsident, Ratspräsident, der Präsident des Europäischen Parlaments, EU-Außenminister sowie möglicherweise ein hauptberuflicher Vorsitzender der Euro-Gruppe, eine Art Finanzminister der EU.

Ob der Sieger der EU-Wahl automatisch zum Chef der Kommission gekürt wird, ist offen. Dem Vernehmen nach ist Bundeskanzlerin Angela Merkel weder über Jean-Claude Juncker noch über Martin Schulz glücklich. Ihr Favorit ist der irische Premier Enda Kenny (konservativ). Genannt werden auch die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt (sozialdemokratisch), der finnische Premier Jyrki Katainen (konservativ) und der Pole Donald Tusk (konservativ). Gegen ihn gibt es Bedenken, weil er eine prononciert anti-russische Haltung einnimmt.

Merkel ist der Dreh- und Angelpunkt bei den Entscheidungen über das Personal-Paket. Der Brite David Cameron will Juncker und Schulz blockieren, ebenso der ungarische Rechtspopulist Viktor Orbán. Realpolitisch können sie das aber nicht.

Europas großes Poker-Spiel um Spitzenjobs ist eröffnet
epa04152113 Dutch Foreign Minister Frans Timmermans arrives at the fourth EU-Africa Summit of Heads of States at the European Council headquarters in Brussels, Belgium, 03 April 2014. Discussions at the summit will focus on the theme 'Investing in People, Prosperity and Peace'. Topics will include education and training, women and youth, legal and illegal migrant flows between both continents, ways to stimulate growth and to create jobs, investing in peace and in ways to enhance EU support for African capacities in managing security in the continent. EPA/Stephanie Lecocq
Als Nachfolger von Catherine Ashton, der Hohen Beauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik, werden der niederländische AußenministerFrans Timmermans(Sozialdemokrat) und der slowakische ChefdiplomatMiroslav Lajčák(parteilos) gehandelt. Sollte Schulz den Kommissionspräsident nicht schaffen, könnte er den Posten des EU-Außenpolitikers bekommen. Gegen Schulz gibt es aber Bedenken, nicht zuletzt vom Parteikollegen AußenministerFrank-Walter Steinmeier. Als Favorit gilt der Diplomat Timmermans, ein ausgesprochener Russland-Experte.

Dank des Sieges der Europäischen Volkspartei (EVP) könnte Juncker auch Ratspräsident werden und dem Belgier Herman Van Rompuy folgen.

Beim Personal-Poker will auch Staatspräsident François Hollande mitspielen, der sich eng mit Merkel abstimmt. Er wollte Pierre Moscovici als Eurogruppen-Vorsitzenden installieren, aber vergeblich: Das schwer verschuldete Krisen-Frankreich kann diesen heiklen Job nicht bekommen, hat Merkel zu verstehen gegeben. Moscovici, der leidenschaftlich twittert, könnte aber Nachfolger von Wirtschafts- und Finanzkommissar Olli Rehn werden.

Eines zeichnet nach der EU-Wahl ab. Bis das Personal-Paket geschnürt ist, dürfte es Monate dauern. Experten in Brüssel und den großen EU-Hauptstädten sagen, dass die amtierende Kommission bis Ende des Jahres im Amt bleiben könnte; das reguläre Ende wäre der 31. Oktober.

Heftig brodelt es auch in der Gerüchtebörse im Parlament. Wer wird der neue Präsident, bei der konstituierenden Sitzung des Parlaments Anfang Juli soll er bestellt werden. Der Name von Othmar Karas fällt immer öfter. Im Parlament gab es bisher die ungeschriebene Regel, dass nach einem Sozialdemokraten ein Konservativer folgt. Nach zweieinhalb Jahren Martin Schulz an der Spitze steht jetzt ein politischer Wechsel an.

Auch die Fraktionsvorsitzenden von Europas Sozialdemokraten und Europäischer Volkspartei werden neu bestellt. Nach dem Ausscheiden von Hannes Swoboda als Chef der Sozialdemokraten suchen die Roten eine Kandidatin. Bei den Konservativen und Christdemokraten gibt der Franzose Joseph Daul den Vorsitz ab. Wer ihm folgt, ist noch offen.

Jean-Claude Juncker, der luxemburgische Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP), ist der strahlende Sieger der Europa-Wahl. Mit 212 Mandaten (Stand Montagmittag) verwiesen die Konservativen die Sozialdemokraten, die auf 187 Abgeordnete kamen, auf Rang zwei. Die Liberalen sanken von 83 auf nunmehr 72 Abgeordnete. Die Grünen konnten dagegen um einen Sitz auf 55 Mandate zulegen.

Juncker ahnte seinen Sieg schon Sonntagnachmittag, hielt sich aber höflich zurück. "Ich bin froh, dass man in der Europäischen Union demokratisch und frei wählen kann. Das ist nicht in jedem Land der Welt der Fall", sagte er gegenüber dem KURIER. Am Abend war der Vorsprung der Konservativen und Christdemokraten schon eindeutig. Das veranlasste Juncker, der im Wahlkampf nie schrill gegenüber seinem sozialdemokratischen Herausforderer Martin Schulz aufgetreten war, den Anspruch auf den Präsidenten der Europäischen Kommission zu stellen. "Ansonsten ist diese Wahl ja keine richtige Wahl gewesen", sagte er in Brüssel in der Parteizentrale der EVP.

Er forderte die Staats- und Regierungschefs auf, das Ergebnis ernst zu nehmen und dabei auf das Parlament zu achten.

Martin Schulz tat sich am Abend schwer, das Ergebnis anzuerkennen. Er wolle um das Amt des Kommissionspräsidenten kämpfen. Schließlich hänge es von einer Mehrheit im Europäischen Parlament ab.

Informelles Abkommen

Die beiden großen Fraktionen im Parlament – EVP und Europäische Sozialdemokraten – haben sich im Vorfeld der Wahl informell darauf verständigt, dass der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion neuer Kommissionspräsident werden soll. Das Vorschlagsrecht für den Posten liegt jedoch bei den EU-Staats- und Regierungschefs, doch muss der Chef der Brüsseler Behörde zwingend auch vom 751-köpfigen Europaparlament mit absoluter Mehrheit (376 Stimmen) gewählt werden.

Die ersten Konsequenzen aus dem Resultat der EU-Wahlen werden die Staats- und Regierungschefs bei einem Sondergipfel am Dienstagabend ziehen. Sie kommen zu einem Abendessen in Brüssel zusammen und werden die Weichen für die Nominierung des Kandidaten und für andere EU-Top-Jobs stellen.

Wen das Brüsseler Geschehen nicht mehr sonderlich tangiert, ist der noch amtierende Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Er verlässt nach zwei Perioden Brüssel und kehrt nach Lissabon zurück.

43 Prozent nahmen teil

Große Euphorie war am Wahlsonntag bei den rund 400 Millionen Stimmbürgern in der EU aber nicht zu spüren. Die Wahlbeteiligung blieb in etwa gleich wie im Jahr 2009, wo sie bei 43 Prozent lag. Gerade in einigen osteuropäischen Ländern, die 2004 EU-Mitglied wurden, blieben die Wähler in Scharen zu Hause. Begeisterung für die EU und für die Arbeit des Europäischen Parlaments schaut anders aus.

Die genaue Wahlbeteiligung wird man erst heute Abend wissen, wenn die Wahlkarten in allen Mitgliedsländern ausgezählt sind.

In sieben Ländern konnten die Wahlbürger schon in den vergangenen Tagen wählen, mit der Veröffentlichung der Resultate mussten sie aber warten.

Insgesamt waren in 28 Ländern rund 400 Millionen Menschen dazu aufgerufen, über 751 Abgeordnete zu bestimmen. Auch die Spitzenkandidaten von EVP und SPE, Juncker und Schulz, konnten der EU keine Flügel verleihen. Sie verstehen das Geschäft, sind alte Hasen in Brüssel, doch die Wahlbeteiligung konnten sie kaum steigern.

Fraktionswechsel

Welche von den beiden großen Fraktionen EVP und SPE letztendlich die meisten Mandate hat, wird sich am Mittwoch zeigen. Dann nämlich werden die Fraktionen gebildet, einige kleinere Parteien haben schon angedeutet, wechseln und sich einer anderen Fraktion anschließen zu wollen. Die Frage ist auch, wohin die Tories gehen, sie waren zuletzt nicht bei der EVP, sondern gehörten der EU-skeptischen konservativen Fraktion ECR an.

In Deutschland kam es Sonntag zum ersten Streit zwischen CDU/CSU und SPD. Beide Parteien beanspruchten den Kommissionspräsidenten. Für den deutschen EU-Kommissar Günther Oettinger muss Juncker Kommissionspräsident werden, das sei eine "logische Folge". In nächster Zeit, so ein Insider, "wird es in der EU-Zentrale und in den Parteibüros noch hektisch werden".

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