Viele Proteststimmen, aber kein "Rechtsruck"

Platz eins für die Rechtspopulisten in Frankreich und in Dänemark, auch in Großbritannien siegte die EU-feindliche UKIP – dennoch fiel der "Rechtsruck" weniger dramatisch aus, als erwartet.

Am Eingang zum Parlamentsgebäude Paul Henri Spaak wurde jenen Polit-Größen, die Sonntagabend ins EU-Parlament kamen, der blaue Teppich ausgerollt. Doch die heimlichen Stars des Abends saßen in den schmucklosen Parlamentsbüros, dort, wo den ganzen Tag über die Ergebnisse aus den 28 EU-Staaten eintrafen und ab dem späten Nachmittag die ersten Hochrechnungen darüber erstellt wurden, wie sich das neu gewählte Parlament zusammen setzen würde. Neben der Frage, ob – wie bisher – die Europäische Volkspartei die stärkste Kraft im Parlament sein würde (das ist sie, und zwar klar - mehr dazu hier), was sich im Laufe des Nachmittags schon abzeichnete, beschäftigte die Hunderten anwesenden Abgeordneten, Wahlkämpfer und Mitarbeiter vor allem eines: Wird es auf europäischer Ebene tatsächlich einen Rechtsruck geben?

Dämpfer zu Beginn

Manche Prognosen hatten den EU-Skeptikern am rechten Rand bis zu 30 Prozent der 751 Mandate zugeschrieben. Doch gestartet war die Europa-Wahl am Donnerstag aus euroskeptischer Sicht mit einem Dämpfer: Die niederländische PVV von Geert Wilders büßte rund fünf Prozentpunkte ein und schaffte überraschend nur Platz drei.

Viele Proteststimmen, aber kein "Rechtsruck"
epa04224210 Italian Prime Minister Matteo Renzi casts his ballot at a polling station in Pontassieve, Italy, 25 May 2014. The European elections will form a new European Parliament, whose 751 members will help set laws in the European Union for five years to come. About 400 million people in the 28-country bloc are eligible to vote. EPA/MAURIZIO DEGL' INNOCENTI
Wilders bastelt seit Jahren an einer neuen Fraktion der rechten EU-Kritiker im Parlament, wo die meisten von ihnen in den letzten Jahren als Fraktionslose gesessen sind. Nach der Wahl, so der Plan, soll es daher eine neue Fraktion geben: Neben der FPÖ, WildersPartij voor de Vrijheid und der französischen Front National ist auch die italienische Lega Nord mit an Bord.

25 Abgeordnete aus mindestens sieben Ländern sind nötig, um eine Fraktion im EU-Parlament zu gründen.

Erstere Hürde sollte kein Problem sein – allein Front National und FPÖ kommen auf mehr als 25 Sitze. Doch die zweite Hürde, Mandatare aus sieben Staaten mit dabei zu haben, schien Sonntag zum Problem zu werden.

Die slowakische Nationalpartei SNS, die ebenfalls in die Fraktion sollte, schaffte kein Mandat.

Zittern um Einzug

In Belgien musste der rechtsextreme Vlaams Belang, der zuletzt mit einem Sitz im EU-Parlament vertreten war, um den Wiedereinzug zittern – bei den gleichzeitig stattfindenden belgischen Parlamentswahlen zeichnete sich ein Absturz ab.

Die Freiheitlichen wollen die geplante Rechtsfraktion aber nicht so schnell aufgeben: FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky sagte Sonntagabend, er wolle schon am Dienstag nach Brüssel fliegen, um "informelle Gespräche" zu führen und neue Partner zu finden. Es gebe "viele andere, die in deren Fußstapfen treten können", sagte Vilimsky zum schlechten Abschneiden von SNS und Vlaams Belang.

Protestparteien stark

Insgesamt legten die Protestparteien europaweit zu – und zwar sowohl rechts wie auch links der Mitte.

In England deutete alles darauf hin, dass die Anti-EU-Partei UKIP Platz eins erringen würde können (siehe unten). Parteichef Nigel Farage hat eine Kooperation mit der Gruppe um Marine Le Pen und eine der FPÖ jedoch stets strikt abgelehnt – mit "diesen Nazis", wie er sagt, wolle er nichts zu tun haben.

Für eine Überraschung sorgte die extreme Linke in Griechenland: Dort holte sich SYRIZA-Chef Alexis Tsipras, der als europaweiter Spitzenkandidat der Linken ins Rennen gegangen war, mit mehr als 25 Prozent der Stimmen den klaren Sieg.

Tsipras wird aller Voraussicht nach nicht als Abgeordneter nach Brüssel wechseln: Eher dürfte er versuchen, mit dem Rückenwind durch den Sieg bei der Europawahl vorzeitige Wahlen in Griechenland zu erreichen und mit SYRIZA im nationalen Parlament an die Macht zu kommen.

Gestärkt wurde in Griechenland auch der rechte Rand: Die rechtsradikale "Goldene Morgenröte" durfte ersten Hochrechnungen zufolge mit acht bis zehn Prozent der Stimmen und Platz drei rechnen. (Eine Zusammenarbeit mit der "Morgenröte" hat Le Pen jedoch konsequent ausgeschlossen.)

In Dänemark schaffte die rechtspopulistische, EU-kritische Dänische Volkspartei laut Nachwahlbefragungen mit 23 Prozent der Stimmen Platz eins.

In Finnland blieben hingegen die "Wahren Finnen" hinter den Erwartungen zurück: Statt, wie prognostiziert, 20 kamen sie nur auf rund 13 Prozent.

Dieses Ergebnis wurde seit Monaten erwartet, der Triumph von Marine Le Pen und ihrer Anhänger am Wahlabend war dann aber doch für die übrigen politischen Kräfte Frankreichs und einen beträchtlichen Teil der Öffentlichkeit ein bedrückendes Erlebnis.
Laut ersten Hochrechnungen kam ihre rechtspopulistische Partei „Front national“ (FN) auf rund 25,4 Prozent und wurde damit zur stärksten Partei Frankreichs.

Platz zwei belegte, ebenfalls laut ersten Hochrechnungen, die konservative UMP mit 21 Prozent. Die regierenden Sozialisten dürften laut ersten Berechnungen unter 15 Prozent gestürzt sein. Die bürgerliche Zentrumspartei UDI erhielt 10,3 und die Grünen 10 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 43,5 Prozent.

„Die Franzosen wollen nicht länger von außen regiert werden“, erklärte Marine Le Pen unter Bezugnahme auf die EU. Das Wahlergebnis ihrer Partei sei „die erste Etappe im langen Marsch des französischen Volks zur Wiedererlangung seiner Freiheit. Damit die Franzosen wieder als erstes in ihrem Land bedient werden“.

Regierungschef gesteht „Schock“

Unmittelbar darauf reagierte Premier Manuel Valls: Das Wahlergebnis sei „bitter für Frankreich und Europa“. Es handle sich um eine „Vertrauenskrise und eine Schrei der Wut“, die Auswirkungen auf das „Projekt Europa“ haben. „Ich weiß, dass Europa euch enttäuscht hat, aber dass ihr Europa eigentlich liebt“, sagte Valls direkt an die Bevölkerung gerichtet. Die EU müsse nun wieder „Hoffnung geben, stärker werden und näher rücken“. Für Frankreichs Politiker, seine Regierung eingeschlossen, handle es sich um einen „Schock und ein Erdbeben“.

Um sich dann wieder direkt an die Franzosen zu richten: „Ihr habt Eure Ratlosigkeit erneut kund getan, bei der Arbeitssuche, bei knappen Monatsenden, bei den Zukunftsaussichten für Eure Kinder“ sagte Valls unter Anspielung auf die vorhergehende schwere Schlappe der Sozialisten bei den landesweiten Kommunalwahlen im März, in deren Folge er zum neuen Regierungschef ernannt worden war. Man dürfe daher jetzt „keine einzige Minute mehr verlieren“, Frankreich müsse sich „grundlegend reformieren“ um seine „Wettbewerbskraft wieder zu erlangen“ betonte Valls. Nur so könne und müsse die „Vertrauenskrise“ der Bevölkerung überwunden werden.

Krise der Konservativen

Der Erfolg der FN wurde auch durch den Umstand begünstigt, dass die konservativ-liberale Opposition, die noch im März bei den landesweiten Gemeindewahlen vereint angetreten war und gesiegt hatte, diesmal zwei getrennte Listen präsentierte.

Außerdem hatte sich die UMP diesmal in einem besonders angeschlagenen Zustand präsentiert: ihr (Noch-)Vorsitzender, Jean-Francois Copé, gilt als Auslaufnummer, weil er im Verdacht steht rund 20 Millionen Euro aus der Parteikasse einer ihm nahestehenden PR-Firma zugeschanzt zu haben. Faktisch verfügt die UMP zurzeit weder über eine halbwegs repräsentative Führungspersönlichkeit noch über einen klaren Kurs zur EU. Ex-Staatschef Nicolas Sarkozy, der ebenfalls von Justiz-Affären belastet wird, intervenierte im Wahlkampf mit der Forderung nach „sofortiger Aufhebung“ des Schengener Abkommens über den freien Personenverkehr in der EU.

Diese Stellungnahme von Sarkozy lief zwar der Haltung der UMP-Kandidaten für die EU-Wahl zuwider, bekräftigte aber die Behauptung von Marine Le Pen, wonach die EU Frankreich einem Massenzustrom von Migranten aus Osteuropa und Afrika ausgeliefert habe.

Im Gegensatz zu Le Pens Wahlkampf-Phrasen ist Frankreich zwar in Europa bei weitem nicht mehr das Hauptziel von Migranten. Die anhaltende Stagnation der französischen Wirtschaft und der laufende Job-Abbau in der Industrie haben aber einen enormen Nährboden für existentielle Ängste geschaffen, die gestern ein Viertel der französischen Wahlteilnehmer ins rechtspopulistische und EU-feindliche Lager trieben.

Als sicherer Sieger bei der EU-Wahl in Deutschland war schon vorab die konservative CDU/CSU festgestanden. Sie erreichte knapp 36 Prozent der Stimmen, musste aber knapp zwei Prozentpunkte Minus hinnehmen. Die SPD legte hingegen deutlich zu, um sieben Punkte und kam auf 27,3 Prozent. Dieser starke Zugewinn, der größte, den die SPD je bei einer EU-Wahl erreichte, dürfte ein „Schulz-Effekt“ sein – die Kandidatur des deutschen Sozialdemokraten Martin Schulz für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten. An dritter Stelle lagen die Grünen mit knapp 11 Prozent, gefolgt von der Linken, der Europa-kritischen „Alternative für DeutschlandAfD und der liberalen FDP.

Spannend war die EU-Wahl in Deutschland vor allem deshalb, weil sich erstmals auch die Kleinparteien Hoffnungen machen durften. Im Februar hatte das Bundesverfassungsgericht die Sperrklausel von fünf Prozent gekippt. Damit reichen nun 0,6 Prozent der Stimmen bereits für ein Mandat aus.

„Neue Volkspartei“

Mehr als optimistisch war denn auch die europakritische „Alternative für Deutschland“ (AfD) in die Wahlen gegangen. Mit 7 Prozent der Stimmen hat sie den Einzug ins EU-Parlament locker geschafft. Begeistert feierte AfD-Chef Lucke gestern seine Partei als „neue Volkspartei“. Er wird sechs Abgeordnete nach Brüssel und Straßburg schicken.

Sogar der rechtsextremen NPD gelang es wegen des Wegfalls der Sperrklausel, mit ihren 0,8 Prozent mit einem Abgeordneten in Straßburg einzuziehen. Auch die Piraten, die Tierschutzpartei und weitere Kleinparteien ziehen ins EU-Parlament ein. Insgesamt werden im neuen EU-Parlament zwölf deutsche Parteien vertreten sein – sie stellen insgesamt 96 Abgeordnete.

Die Wahlbeteiligung lag mit 48 Prozent um fünf Punkte über dem Niveau von 2009.

Schon am Donnerstag haben die Briten ihre Stimmen zur EU-Wahl abgegeben. Und bereits das veröffentlichte Ergebnis der parallel abgehaltenen Kommunalwahlen hatte die regierenden Tories Schlimmes erwarten lassen. Doch es kam noch böser: Die Konservativen gingen nur als drittstärkste Kraft durchs Ziel – hinter der oppositionellen Labour-Partei und vor allem hinter dem triumphierenden Wahlsieger, der EU-feindlichen Britischen Unabhängigkeitspartei (UKIP). Diese verfügt zwar derzeit über keinen einzigen Abgeordneten im Unterhaus, hatte aber im Wahlkampf die gesamten politische Parteien auf der Insel vor sich her getrieben.

Die unmissverständliche Botschaft der UKIP und ihres streitbaren Parteichefs Nigel Farage: Raus aus der EU. Und das am besten sofort. Denn nur so, argumentiert die UKIP, könne der ungeliebten Zuwanderung aus den anderen EU-Staaten, vor allem den osteuropäischen, ein Riegel vorgeschoben werden.

Vier-Parteien-Land

Die Ergebnisse des Wahltages haben das politische Großbritannien in seinen Grundfesten erschüttert: Die UKIP veränderte das Inselreich mit einem Schlag zu einem Vier-Parteien-Land. Wirklich EU-freundlich agieren dabei nur die Liberaldemokraten, die allerdings am Wahldonnerstag schwer abgestraft wurden.
Alle anderen Parteien handeln eher nach dem Motto: Lieber weniger, aber am liebsten eigentlich gar keine EU, die in Großbritannien drein redet.

Den meisten Briten ist die Zusammensetzung des wenig geliebten EU-Parlaments herzhaft gleichgültig. Nicht egal wäre ihnen aber, wenn Martin Schulz oder Jean-Claude Juncker als vermutlich sehr umtriebiger Kommissionspräsident das Ruder übernehmen würde. Beide treten für „mehr Europa“ ein – ein Weg, den in Großbritannien kaum jemand will.

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