"Wir haben gedacht, wir krepieren alle"

Ein Buch lässt anhand geheimer Protokolle tief hinter die Brüsseler Kulissen blicken.

In der Nacht zum 8. Mai 2010 herrscht Panik in den Büros des Europäischen Ratsgebäudes in Brüssel. Die Wirtschaftskrise hat die EU-Staaten voll getroffen, die Finanzmärkte setzen einigen EU-Staaten das Messer an, frisches Geld kann nur mehr zu horrenden Zinsen auf dem freien Kapitalmarkt beschafft werden. Der Euro droht zu zerbrechen.

Es wird hektisch telefoniert, zwischen Berlin, Brüssel, Frankfurt, Paris, Washington. Und plötzlich lenkt Merkel ein, der erste Euro-Rettungsfonds EFSF wird installiert – und mit 440 Milliarden Euro gefüllt.

Planlos

"Die Europäische Spitzenpolitik war völlig überrascht von der Krise, es gab keinen Plan. Und dann haben sie immer gewartet, bis absolut nichts mehr gegangen ist, bis knapp vor dem Zusammenbruch, bis sie sich dann doch entschieden haben, etwas zu tun", erzählt der Journalist Raimund Löw. Der Brüssel-Korrespondent des ORF hat mit Cerstin Gammelin, EU-Bürochefin der Süddeutschen Zeitung, nun ein Buch verfasst, das die Leser wie nie zuvor hinter die Brüsseler Kulissen schauen lässt. Löw und Gammelin sind vor allem der Frage nachgegangen, wer in Brüssel eigentlich regiert, wer die wahren Drahtzieher Europas sind.

Natürlich dreht sich sehr viel um Angela Merkel. Die deutsche Bundeskanzlerin, von Top-Diplomaten als Monarchin und als "Madame No" tituliert, schafft es mehrmals, ihren 26 Amts-Kollegen die Schweißperlen auf die Stirn zu treiben.

Mit jenen Beschlüssen vom Mai 2010 war der Euro noch nicht gerettet. Wie die Recherchen zeigen, gab es zumindest zwei weitere Gipfeltreffen, bei denen das Projekt Euro nur knapp einer Bruchlandung entging.

An einen Gipfel im Herbst 2012 erinnert sich ein Spitzendiplomat mit den Worten: "Wir haben gedacht, wir krepieren alle."

"Wir haben gedacht, wir krepieren alle"
"Inside Brüssel", Raimund Löw diskutiert mit einer Runde von hochkarätigen EU-Korrespondenten. Die Diskussion liefert Einblicke in die spannendsten, aktuellen Themen der Woche aus europäischer Sicht. Was bedeuten die Entscheidungen auf EU-Ebene für die Welt, letztlich für jede Österreicherin, jeden Österreicher. Die Sendung gibt Antworten die zum Verständnis europäischer Themen aus österreichischer Sicht beitragen. EU Politik hautnah erlebt.Im Bild: Raimund Löw. - Veroeffentlichung fuer Pressezwecke honorarfrei ausschliesslich fuer die redaktionelle Berichterstattung in Zusammenhang mit Sendungen oder Veranstaltungen des ORF. Foto: ORF/Hans Leitner. Andere Verwendung honorarpflichtig und nur nach schriftlicher Genehmigung der ORF-Fotoredaktion. Copyright: ORF, Wuerzburggasse 30, A-1136 Wien, Tel. +43-(0)1-87878-13606
Gammelin und Löw haben im Stillen mehr als ein Dutzend Staatenlenker interviewen können, ebenso haben sie Einblick in die unter Journalisten sagenumwobenen Antici-Protokolle bekommen: Während die Staats- und Regierungschefs hinter verschlossenen Türen beraten, warten im Nebenraum die "Antici", die Assistenten der 27 EU-Botschafter, auf den Bericht des einen Antici-Kollegen, der mit den Regierungschefs im Raum sitzt. Er gibt alle 15 Minuten mündlich wieder, was im Sitzungssaal passiert. Die Antici protokollieren mit – und nach einem bewährten Stille-Post-System erfahren so alle übrigen Spitzenkräfte, was entschieden wird.
"Wir haben gedacht, wir krepieren alle"
Das Buch zeigt auch, dass sich der eher unbekannte EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy zu einem der wichtigsten Krisenmanager entwickelt hat. "Der ist ein Glücksgriff gewesen. Er arbeitet sehr effizient und hat ein Gefühl für die vielen innenpolitischen Zwänge der Regierungschefs. Er spürt, was geht, und was nicht – und wie man aus verfahrenen Situationen herauskommt", erzählt Löw.

Anhand vieler konkreter Beispiele wird auch beschrieben, wie die EU in anderen Politikfeldern arbeitet, wie problematisch das Lobbying ist – und warum eine sozialeres Europa vorerst Utopie bleibt.

BuchtippCerstin Gammelin, Raimund Löw: " Europas Drahtzieher", Econ Verlag 384 S.; 20,60 €

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