Merkel: "Kein Drama" bei Juncker-Abstimmung

Die deutsche Bundeskanzlerin steht zu Juncker und für sie wäre es "kein Drama", wenn die Entscheidung nicht einstimmig ausfällt. Bild: Der britische Premer David Cameron, Frankreichs Präsident Francois Hollande und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel
Für die Benennung des Luxemburgers zum Kommissionspräsidenten sind scheinbar alle Weichen gestellt.

Auf dem EU-Gipfel in Brüssel wollen die Staats- und Regierungschefs am Freitag über den neuen Chef der EU-Kommission entscheiden. Für die Benennung des Luxemburgers Jean-Claude Juncker zum künftigen Kommissionspräsidenten sind trotz des Widerstands Großbritanniens alle Weichen gestellt. Merkel will aber London nicht weiter verärgern und hat inhaltliche Zugeständnisse in Aussicht gestellt.

Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen außerdem am 17. Juli zu einem Sondergipfel zusammentreffen. Das sagte der irische Regierungschef Enda Kenny am Donnerstag im belgischen Kortrijk nach einem Treffen der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP). Laut EU-Diplomaten soll dann über EU-Topposten wie den Außenbeauftragten entschieden werden. Ob beim Juli-Gipfel auch über die Nachfolge von EU-Ratschef Herman Van Rompuy entschieden werde, sei möglich, aber nicht sicher, hieß es. Kenny äußerte sich nicht zu konkreten Posten.

Merkel: "Kein Drama"

Währenddessen sieht die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in einer sich abzeichnenden Abstimmung für Jean-Claude Juncker zum neuen Kommissionspräsidenten und einer Mehrheitsentscheidung "kein Drama". Vor Beginn des EVP-Treffens im Vorfeld des EU-Gipfels am Donnerstag im belgischen Kortrijk sagte Merkel, sie rechne mit einer Ablehnung durch den britischen Premier David Cameron.

Hohes Maß an Gemeinsamkeit

Auf die Frage, wie sie Cameron einbinden wolle, der angekündigt habe, gegen Juncker zu votieren, sagte Merkel: "Wir rechnen damit. Und Cameron hat das immer wieder gesagt. Die Verträge sagen, wir müssen mit qualifizierter Mehrheit abstimmen. Ich halte das deshalb auch für kein Drama, wenn eben eine Abstimmung in dem Fall nicht einstimmig ist". Allerdings "müssen wir schauen, wie wir bei inhaltlichen Fragen ein hohes Maß an Gemeinsamkeit erreichen. Ich hoffe, mit Großbritannien zu guten Kompromissen zu finden und auch auf Großbritannien zuzugehen", betonte die Kanzlerin. "Es wird immer vom europäischen Geist gesprochen. Ich hoffe, dass der auch uns hilft, vernünftige Lösungen zu finden".

Kritik von Spindelegger

Vizekanzler Finanzminister Michael Spindelegger hat den britischen Premier wegen seiner Haltung im Streit um den nächsten EU-Kommissionschef scharf kritisiert. "Man kann nicht sehenden Auges in eine solche Situation hineinschlittern, ohne zu wissen, wie man selber wieder herauskommt", sagte der ÖVP-Chef am Donnerstag beim Treffen. Es wäre "keine Alternative", den Großteil der Mitgliedsländer zu verärgern, indem Juncker nicht als EU-Kommissionschef designiert würde. Es sei wichtig, jetzt eine Entscheidung zu treffen. "Aus meiner Sicht kann es nicht sein, wenn man vor der Wahl ein System vereinbart, das muss man nach der Wahl natürlich auch einhalten. Und da kann man sich nicht nachher darauf ausreden, dass man eigentlich etwas anderes hätte machen sollen", sagte Spindelegger in Hinblick auf Camerons Kritik an dem Spitzenkandidaten Juncker, dessen EVP als stärkste Kraft aus der EU-Wahl hervorging.

Spindelegger: "Jeder wählt sein Schicksal"

Spindelegger betonte, er hoffe, dass es nicht zu einem EU-Austritt Großbritanniens komme. "Ich glaube, dass wir mit Cameron gemeinsam einen Weg finden müssen, wie auch Großbritannien wieder stärker in der Europäischen Union verankert ist. Aber jeder wählt auch sein Schicksal selber. Es hat sich der Großteil für Juncker ausgesprochen, wenn man dann immer noch dagegen ist, muss man auch sehen, dass man isoliert ist."

Keinen Spielraum sieht Spindelegger in Hinblick auf die aktuelle Diskussion um eine Lockerung bei der Interpretation des Euro-Stabilitätspaketes bei der Budgetkonsolidierung der EU-Staaten. "Das ist der Weg hin zu mehr Wachstum und mehr Jobs, das wollen wir ja alle. Da führt kein Weg daran vorbei.

Neue Sanktionen gegen Russland möglich

Auf dem Gipfel wird auch über die Lage in der Ukraine beraten werden. Dabei sind auch neue Sanktionen gegen Russland nicht ausgeschlossen. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko wird mit den Staats- und Regierungschefs über die zugespitzte Lage in seinem Land sprechen und ein Partnerschaftsabkommen mit der EU unterzeichnen.

Merkel sagte unmittelbar vor dem Gipfeltreffen: "Wir werden darüber sprechen, ob wir bei den Sanktionen weitergehen müssen oder inwieweit es in den nächsten Stunden doch noch Fortschritte gibt."

EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy erinnerte im belgischen Ypern an die Millionen Opfer des Konflikts und sprach von einer "Spirale der Selbstzerstörung", durch die Europa damals "in den Abgrund" gerissen worden sei.

Die Vertreter der 28 EU-Staaten zogen gemeinsam zu Fuß durch das historische Zentrum der Stadt in Westflandern von der gotischen Tuchhalle zum Menentor, in das die Namen von fast 55.000 vermissten Commonwealth-Soldaten eingraviert sind - darunter auch ein Verwandter des britischen Regierungschefs David Cameron. Dort hielten sie eine Schweigeminute ab und wohnten dem traditionellen Zapfenstreich bei, mit dem an die rund 17 Millionen Toten des Krieges von 1914 bis 1918 erinnert wird.

Van Rompuy und EU-Kommissionschef José Manuel Barroso legten an dem Tor einen weißen Blumenkranz nieder. Von der Decke des Tores regneten auf die Staats- und Regierungschefs rote Klatschmohn-Blätter herab, die für die hunderttausenden Gefallenen in der Region stehen. Der dort eingesetzte kanadische Sanitätsoffizier John McCrae hatte in seinem berühmten Gedicht "Auf Flanderns Feldern" den roten Klatschmohn als Symbol für das Blut der Toten verwendet.

Im Anschluss weihten die Gipfelteilnehmer eine runde Friedensbank aus weißem Stein ein, die an das Treffen in Ypern erinnern soll.

Die Region um die belgische Stadt Ypern im Nordwesten Belgiens steht in besonderer Weise für die Schrecken des Ersten Weltkriegs. In Flandern setzten die Deutschen 1915 zum ersten Mal Giftgas ein. Bei den dortigen Stellungskämpfen starben hunderttausende britische und deutsche Soldaten. Viele Leichen versanken im Schlamm der Felder von Flandern und wurden niemals identifiziert oder offiziell bestattet.

"Ich glaube, dass uns das noch einmal vor Augen führt, in welch guten Zeiten wir heute leben, dadurch dass es die Europäische Union gibt und dass wir aus der Geschichte gelernt haben", sagte die in einem schwarzen Hosenanzug gekleidete Merkel.

Nicht wie üblich in Brüssel, sondern in einem Städtchen im Westen Belgiens kommen heute die 28 Staats- und Regierungschefs zusammen, um dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu gedenken.

Ypern steht für das ganze Grauen der großen Katastrophe: Hier lagen sich von 1914 bis 1918 deutsche und britische Truppen im nahezu bewegungslosen Grabenkrieg gegenüber, Deutsche setzten 1915 an dieser Front zum ersten Mal Giftgas als Waffe ein. Insgesamt starben in West-Belgien ungefähr eine halbe Million Soldaten.

Bei der Gedenkfeier in Ypern, so die Erwartung vieler EU-Granden, soll der Streit über das große Personalpaket und die inhaltliche Neuausrichtung der EU noch nicht voll ausbrechen, Ruhe in den Reihen der Regierungschefs wird eingedenk des Weltkriegs-Gedenkens gefordert. Ein frommer Wunsch, denn schon beim Abendessen im Rathaus von Ypern dürften die Wortgefechte bei der Debatte über die neue Wirtschafts- und Außenpolitik heftig werden.

Flexibler Stabi-Pakt

Europas Sozialdemokraten fordern vehement – angeführt von Italiens Matteo Renzi und Frankreichs François Hollande – den Stabilitätspakt neu zu definieren, sprich: die Regeln flexibler zu handhaben. Beide Länder sind schwer überschuldet und haben ein hohes Defizit. Italiens Premier Renzi wetterte bereits vor dem Gipfel gegen die "Hohepriester" der Sparpolitik, die eine Stagnation und noch mehr Arbeitslose Europas riskierten.

Wie der Spielraum, den es bei der Defizitberechnung gibt, genützt wird, ist nicht genau festgelegt.

Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel will die Stabilitätskriterien nicht lockern. Sie kontert elegant den Schuldensündern: "Nötig ist eine größere Verlässlichkeit, dass eine in der EU verabredete Politik auch umgesetzt wird". Merkels Credo: Mit Christdemokraten und Konservativen in der EU sind die strengen Kriterien der Haushaltsführung nicht verhandelbar.

Tunlichst vermeiden wollen die EU-Granden am Gedenkort des Weltkrieges den verbalen Krieg mit dem britischen Premier David Cameron. Um innenpolitisch zu punkten, wird er wohl eine Kampfabstimmung über Jean-Claude Juncker verlangen. Er lehnt den Luxemburger als Kommissionspräsidenten ab, inhaltlich, weil er zu EU-freundlich ist, und formal, weil er laut Cameron in Großbritannien nicht zur EU-Wahl stand. Camerons Partei, die Tories, gehören in der Tat nicht der Europäischen Volkspartei an, die Juncker zum Spitzenkandidaten gemacht hat. Nur noch Ungarns Regierungschef Viktor Orbán unterstützt Cameron, Schweden und die Niederlande sind jetzt auch für Juncker.

Porträt Juncker:

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GERMANY LUXEMBURG

Merkel findet ein Votum über Juncker nicht schlimm, dieses demokratische Instrument sieht der EU-Vertrag auch vor. "Es ist kein Drama, wenn wir auch nur mit qualifizierter Mehrheit abstimmen werden", sagte Merkel kurz vor Gipfelbeginn.

Eskalieren könnte der Streit zwischen Linken und Rechten über das gesamte Personalpaket. Die Sozialdemokraten wollen sich beim Gipfel über alle Top-Jobs einigen, die Konservativen sind dagegen. "Wir brauchen Zeit für solche Beschlüsse, Qualität geht vor Tempo", sagte der scheidende Ratspräsident Herman Van Rompuy.

Sondergipfel Mitte Juli?

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European Council President Herman Van Rompuy welcomes Denmark's Prime Minister Helle Thorning-Schmidt (R) during an European Union leaders summit in Brussels March 1, 2012. EU leaders wrestled on Thursday with the balance between budget austerity and reviving lost growth at the first summit for two years in which the euro zone debt crisis did not eclipse all else. REUTERS/Francois Lenoir (BELGIUM - Tags: POLITICS BUSINESS)
Am Freitag wird um das Personalpaket gepokert. Als so gut wie fix gilt, dass die junge italienische Außenministerin Federica Mogherini die Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik wird. Sozialdemokraten beanspruchen auch den Posten des Ratspräsidenten für sich. Hier bahnt sich ein Tauziehen innerhalb der Partei an. Lange galt die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt als Favoritin. Jetzt hat sich Frankreichs Hollande zu Wort gemeldet und will seinen Ex-Premier Jean-Marc Ayrault im Präsidenten-Sessel in Brüssel wissen. Der Nachfolger des niederländischen Euro-Vorsitzenden Jeroen Dijsselbloem soll der spanische Wirtschaftsminister Luis de Guindos werden.

Sollte das Personalpaket nicht geschnürt werden – und der Widerstand von Van Rompuy und anderer Konservativer deutet darauf hin – wird in Brüssel ein Alternativtermin für einen Sondergipfel genannt. Mitte Juli, bevor Juncker im Europäischen Parlament zum Kommissionspräsidenten gewählt wird, soll dieses Treffen auf höchster Ebene stattfinden.

Trostpreis für Schulz

Einig sind sich Rot und Schwarz, dass Martin Schulz weiterhin für zweieinhalb Jahre Präsident des EU-Parlaments bleiben soll, die Wahl findet nächsten Dienstag statt. Einen Erfolg im Parlament hat die SPÖ zu verbuchen: Europa-Abgeordneter Jörg Leichtfried wurde am Mittwoch zum Vize-Fraktionschef der Europäischen Sozialdemokraten gewählt.

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