EU-Abkommen: Timoschenko will sich "opfern"

Die ukrainische Oppositionsführerin verzichtet für den Vertrag auf eine Behandlung in Deutschland.

Die inhaftierte ukrainische Oppositionsführerin Julia Timoschenko hat angeboten, im Gegenzug für den Abschluss eines wichtigen EU-Vertrages auf eine Behandlung in Deutschland zu verzichten. "Wenn Sie sich zur Unterzeichnung des Abkommens entschließen, werde ich am selben Tag die europäischen Anführer bitten, den Vertrag bedingungslos zu unterschreiben", betonte die in Haft erkrankte Ex-Regierungschefin in einem am Freitag von ihrer Partei veröffentlichten Brief an Präsident Viktor Janukowitsch.

Timoschenko hatte zuvor zu Massenprotesten gegen die Regierung aufgerufen. Eine Behandlung der Politikerin in Deutschland ist eine Grundforderung der EU für den Abschluss des Assoziierungsabkommens über engere Zusammenarbeit und freien Handel mit der Ukraine. Im Parlament in Kiew war jedoch ein Gesetz über einen Hafturlaub Timoschenkos im Ausland gescheitert. Danach legte die Ex-Sowjetrepublik auch das Abkommen mit der EU auf Eis.

Klitschko stieg auf die Barrikaden

EU-Abkommen: Timoschenko will sich "opfern"
"Die Ukraine gehört zu Europa": Oppositionspolitiker und Boxweltmeister Vitali Klitschko.
Zahlreiche Menschen in der früheren Sowjetrepublik haben in der Nacht auf Freitag gegen die Anti-EU-Entscheidung der Regierung protestiert. "Zusammen können wir die Botschaft vermitteln, dass die Ukraine zu Europa gehören und ein demokratischer Staat sein wird", rief Oppositionspolitiker Vitali Klitschko der Menge in der Nacht zum Freitag zu. "Und zusammen können wir diese Regierung austauschen", sagte der Boxweltmeister seiner Partei Udar (Schlag) zufolge. Auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz hatten sich etwa 2000 Demonstranten versammelt.

Die Regierung hatte ein jahrelang ausgehandeltes Abkommen mit der EU über eine Assoziierung (siehe unten) und freien Handel eine Woche vor der geplanten Unterschrift auf Eis gelegt. Russland hatte mit Wirtschaftssanktionen gedroht. Außerdem scheiterte im Parlament erneut ein Gesetz über die Behandlung der in Haft erkrankten Oppositionsführerin Julia Timoschenko in Deutschland - eine Bedingung der EU für die Assoziierung. Die EU und die USA zeigten sich enttäuscht.

Die Regierungsgegner in Kiew kündigten neue Demonstrationen an. Proteste gab es unter anderem auch in Lwiw (Lemberg) und Iwano-Frankowsk im pro-europäischen Westen aber auch in den Großstädten Donezk und Charkow im russischsprachigen Osten.

Regierung: "Taktischer Schritt"

Die Ukraine hat die überraschende Abkehr vom Kurs in Richtung EU und ihren Schulterschluss mit Russland als rein wirtschaftlich begründeten taktischen Schritt bezeichnet. Ihre generelle Strategie habe die Regierung nicht geändert, sagte Ministerpräsident Mikola Asarow am Freitag vor dem Parlament in Kiew. "Die Entscheidung, das Abkommen mit der EU auszusetzen, war schwierig, aber die einzig mögliche angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftslage der Ukraine", sagte Asarow. "Sie war ausschließlich von wirtschaftlichen Gründen diktiert und ist taktisch." Russland ist für die Ukraine der wichtigste Gaslieferant und größter Handelspartner.

Das vorbereitete 1.200 Seiten starke Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine besteht aus einer Präambel, sieben Kapiteln, 43 Anhängen und 3 Protokollen. Es ist nach Angaben der EU-Kommission das am weitesten reichende, das die Europäische Union bisher ausgehandelt hat.

Das Abkommen befasst sich nicht nur mit Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und der Schaffung einer Freihandelszone, sondern auch mit der politischen Zusammenarbeit. Darin wird eine enge Kooperation in der Außenpolitik, in Justiz- und Grundrechtsfragen vereinbart.

Der Vertrag sieht eine ständige und schrittweise Anpassung von Vorschriften und Normen in der Ukraine an die Standards der EU vor. Das Spektrum reicht von Urheberrechten über Beschaffungsvorschriften und Wettbewerbsgesetze bis hin zu Vorschriften über den Finanzmarkt oder den Verkehr. Der Markt der EU wird fast vollständig für die Ukraine geöffnet - und umgekehrt. In verschiedenen Bereichen gibt es Übergangsfristen.

Sofern bestimmte rechtliche, organisatorische und politische Voraussetzungen erfüllt sind, sollen die Ukrainer auch ohne Visa in die EU reisen dürfen. Auch im Energiebereich ist eine enge Zusammenarbeit vorgesehen.

Die EU macht einen Hafturlaub der erkrankten Oppositionsführerin Julia Timoschenko zur Bedingung für ein weitreichendes Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Die Politikerin war 2004 Galionsfigur der pro-westlichen Orangenen Revolution in der Ex-Sowjetrepublik, ein Jahr später wurde sie Regierungschefin in Kiew.

Ein 2009 unterzeichnetes Gasabkommen mit Russland wurde der heute 52-Jährigen zum Verhängnis - sie sitzt seit 2011 eine international umstrittene siebenjährige Haftstrafe ab, weil sie ihrem Land aufgrund ungünstiger Vertragsbedingungen Schaden zugefügt haben soll.

3. März 2010: Timoschenko muss nach einem Misstrauensvotum des Parlaments in Kiew zurücktreten. Der Vorwurf: Amtsmissbrauch. Sie habe zum Nachteil der Ukraine ein Abkommen über russische Gaslieferungen geschlossen.

24. Juni 2011: In Kiew beginnt der Prozess, den die EU als politisch motiviert betrachtet. Im Gerichtssaal und auf der Straße kommt es zu Tumulten zwischen Gegnern und Unterstützern.

5. August: Timoschenko kommt in Untersuchungshaft.

11. Oktober: Trotz internationaler Proteste verurteilt ein ukrainisches Gericht Timoschenko zu sieben Jahren Straflager und umgerechnet 137 Millionen Euro Schadenersatz. Sie legt Berufung ein.

30. Dezember: Timoschenko kommt in ein Frauenlager in der Stadt Charkow, rund 450 Kilometer östlich von Kiew.

14./15. Februar 2012: Die Oppositionsführerin klagt über Rückenschmerzen und wird im Straflager von Spezialisten der Berliner Klinik Charite untersucht. Diagnose: Bandscheibenvorfall.

9. Mai: Die Ex-Regierungschefin kommt in eine Spezialklinik außerhalb des Straflagers und beendet nach etwa drei Wochen einen Hungerstreik.

21. Mai: Ein zweiter Strafprozess gegen Timoschenko wegen angeblicher Steuerhinterziehung und Veruntreuung wird vertagt. Weitere Termine werden wegen Timoschenkos Krankheit immer wieder verschoben.

29. August: Das Oberste Gericht in Kiew lehnt Timoschenkos Berufung gegen das Urteil von Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauchs ab.

29. Oktober: Bei der Parlamentswahl in der Ukraine kann die Regierung ihre Macht behaupten. Aus Protest gegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl tritt Timoschenko erneut in einen gut zweiwöchigen Hungerstreik.

18. Jänner 2013: Weitere schwere Anschuldigungen der Justiz sorgen für Aufsehen: Timoschenko müsse sich auch wegen Mordes an einem Abgeordneten verantworten, den sie 1996 in Auftrag gegeben habe.

30. April: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg urteilt, die Ukraine habe Timoschenko willkürlich in Untersuchungshaft genommen. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Timoschenko bleibt im Krankenhaus unter Bewachung.

21. November: Im ukrainischen Parlament scheitern mehrere Gesetzentwürfe, die Timoschenkos Behandlung in Deutschland erlauben würden. Das geplante Assoziierungsabkommen der Ex-Sowjetrepublik mit der EU ist deswegen stark gefährdet.

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