"Erdoğan ist eine Spielernatur"

Trotz der nationalistischen und autoritären Politik des Präsidenten rät Gerhard Schweizer der EU, die Türe zu Ankara nicht gänzlich zuzuschlagen: „Es gibt eine Zeit nach Erdoğan“.
Nahost-Experte Schweizer über Beweggründe des Staatschef, der das Land in Richtung Diktatur führe.

Er gilt als einer der profundesten Kenner des Nahen und Mittleren Ostens. Nach seinen grundlegenden Werken "Syrien verstehen" und "Islam verstehen" verfasste Gerhard Schweizer nun "Türkei verstehen" (547 Seiten, 10,30 Euro; siehe unten). Mit dem deutschen Kultur- und Politikwissenschaftler führte der KURIER ein Interview über die beängstigenden Umbrüche im Land am Bosporus.

"Erdoğan ist eine Spielernatur"
Interview mit dem Buchautor von "Syrien verstehen" und Historiker Gerhard Schweizer am 9.12 in Wien
KURIER: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan regiert immer autoritärer. Ist das Land auf dem Weg zur Diktatur?Gerhard Schweizer:Im Augenblick, ja. Er führt die Türkei nach dem Putschversuch (vom 15. Juli) mit einer Übergangsermächtigung. Das konnte man anfänglich angesichts der Bedrohung ja noch verstehen. Aber dann kamen die Verhaftungen von Journalisten und die De-facto-Auslöschung der Kurden-Partei. Es gibt zwar weiter Oppositionsparteien, etwa die säkulare CHP, aber sie wagen keinen nennenswerten Widerstand. Wir kennen das von Hitler. Auch er regierte mit Ermächtigungsgesetzen und kehrte nie wieder zur Demokratie zurück.

Was treibt Erdoğan?

Er will mit Atatürk als wegweisender Gestalter der Republik auf einer Stufe stehen, dazu ist ihm jedes Mittel recht. Und er will den Staatsgründer insofern korrigieren, als er der Religion mehr Einfluss zukommen lässt. Zur Demokratie hat er ein ambivalentes Verhältnis, da er sie in seinem ganzen Leben nie kennenlernte. Ehe seine AK-Partei an die Macht kam (2002), musste er persönlich erfahren, dass der damals strikte Laizismus die religiösen Rechte einschränkte. Die Demokratie war tatsächlich schwach ausgeprägt, da das Militär als säkularer "Wächterrat" jede Regierung aushebelte, die nicht seinen ideologischen Vorstellungen entsprach.

Aber zu Beginn brachten Erdoğan und seine AKP doch frischen Wind ins Land, oder?

Ja, absolut. Es gab Reformen und mehr Demokratie, die natürlich auch dem eigenen religiösen Klientel zugute kam, indem plötzlich Frauen mit Kopftuch an den Unis zugelassen wurden. Aber auch Kurden und Christen erhielten mehr Rechte. Und das Militär wurde zurückgedrängt. Das sind alles Leistungen, die man nicht kleinreden darf.

Wann kam der Bruch?

Spätestens nach der Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste 2013 (die sich zunächst gegen ein Bauprojekt in Istanbul richteten, dann aber gegen die Regierung) war Erdoğan kein Demokrat mehr. Der Schlusspunkt dieser Entwicklung war die Wahl 2015. Damals verlor er erstmals die absolute Parlamentsmehrheit. Das konnte er nicht akzeptieren, denn Erdoğan wollte die Macht nicht mit einem andersdenkenden Koalitionspartner teilen. Er sah angesichts des aufgeputschten türkischen Nationalismus die Chance, nun selbst einen rigorosen Nationalismus zu fahren und so die Wählermassen zu gewinnen. Dabei näherte er sich der MHP an, der Partei radikaler Nationalisten, die schon fast faschistisch ist. Sie boten ihm ein Bündnis um den Preis an, dass er seine Reformpolitik gegenüber den Kurden beendete. Die Wähler dankten Erdoğan den ideologischen Schwenk . Bei der nächsten Wahl fuhr die AKP die "Absolute" wieder ein, die Rechnung des genialen Machtstrategen der zynischen Art ging auf.

Und seither, vor allem nach dem Umsturzversuch, spielt Erdoğan alle gegen die Wand...

Der gescheiterte Putsch kam ihm sehr gelegen. Mit den Verhaftungs- und Entlassungswellen entledigt er sich der Anhänger von Fetullah Gülen (einem früheren Weggefährte Erdoğans, mit dem er sich im Kampf um die Macht zerstritten hatte). Obwohl die Regierung den charismatischen Prediger und Medienmogul für den dilletantistisch ausgeführten Coup verantwortlich macht, spricht aber vieles dafür, dass der kemalistische Militärkader dahinter steckt.

Wegen des harten Kurses Ankaras hat das EU-Parlament beschlossen, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf Eis zu legen. Ankara droht nun, die Flüchtlinge wieder Richtung Europa zu schicken. Wird es dazu kommen?Nein, das denke ich nicht. Wahrscheinlich wird auch die Todesstrafe nicht kommen. Erdoğan benützt dies alles als Drohgebärde. Er ist eine Spielernatur und pokert sehr hoch. Denn er weiß genau, dass die Türkei die EU mehr braucht als dies umgekehrt der Fall ist. Bereits jetzt bleiben Investoren aus, der Tourismus bricht zusammen. So kann sich der Präsident auf Dauer nicht halten. In dieser Situation ist sogar ein Bürgerkrieg nicht ausgeschlossen. Mit den Kurden tobt ein solcher ja bereits.

Aber wenn Erdoğans Position gar nicht so unantastbar ist wie es scheint, warum agiert er dann so wie er es tut?

Möglicherweise aus Selbstüberschätzung – unter dem Motto: "Ich stehe das durch."

Soll die EU in dieser Situation von sich aus die Gespräche mit der Türkei abbrechen?

Das wäre ein Riesenfehler, denn es gibt auch eine Türkei nach Erdoğan. Namhafte Schriftsteller wie etwa Orhan Pamuk (Literaturnobelpreisträger) und viele andere Intellektuelle sind ja nach wie vor vorhanden, ebenso die unterdrückten Oppositionspolitiker. Sie wären für einen weiteren Dialog mit der EU bereit, sie müssen allerdings warten, bis Erdoğan Schwächen zeigt oder gar auf Druck von Unruhen die Macht verliert.

Im Nahen und Mittleren Osten verfolgt der türkische Staatschef eine neo-osmanische Politik und stellt die Staatsgrenzen in Frage. Meint er das ernst?Manches deutet darauf hin. Er wollte die Türkei schon früh als Regionalmacht neben dem Iran und Saudi-Arabien etablieren und hat ein Auge auf Randgebiete in Syrien und dem Nordirak geworfen, die angeblich einmal türkisch gewesen seien. Nach dem Bruch mit (dem syrischen Präsidenten) Assad und dem Ausbruch des Krieges rechnete er rasch mit einem Kollaps des dortigen Regimes und wollte sich einen Teil des Kuchens sichern. Das Kalkül ist nicht aufgegangen, die Türkei steht auf der Verliererseite, momentan hat der Iran (ein Verbündeter Assads) die besseren Karten. Und sollte sich Ankara militärisch in Syrien noch stärker engagieren, wird es dort ihr Vietnam erleben.

Ein Ziel der Türkei in Syrien ist es, die dortigen Kurden in ihren Bestrebungen für eine Eigenstaatlichkeit einzudämmen. Welche Rückkopplungen hat das auf den Kurden-Konflikt in der Türkei?

Sehr große. In Nordsyrien haben die Kurden de facto ihren eigenen Staat, im Irak, der zerfallen ist, ebenso. Diese Dynamik greift auf die Türkei über. Erdoğans größter Fehler war es, den Dialog mit den türkischen Kurden aus machttaktischen Gründen abgebrochen zu haben. Es hätte seine größte historische Leistung sein können, die Versöhnung herbeizuführen. Stattdessen schoss sich Erdoğan selbst ins Knie.

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