EU

"Erdoğan hat seine EU-Abstimmung schon gehabt"

Anti-Regierungsprotest in Istanbul.
Die EU solle die Beitrittsgespräche suspendieren, aber nicht beenden - fordert die Türkei-Berichterstatterin des EU-Parlaments.

Wie soll die EU angesichts des autoritären Kurses der Türkei mit dem schwierigen Beitrittskandidaten umgehen? "Die Verhandlungen suspendieren, sobald die Türkei die neue Verfassung umsetzt, die das Land zu einem autoritären Staat umformt ", fordert Kati Piri. Die niederländische EU-Abgeordnete (SP) ist Türkei-Berichterstatterin des EU-Parlaments.

KURIER: Die neue Verfassung wird erst nach den Wahlen 2019 in Kraft treten. Soll die EU erst so spät reagieren?

Erdoğan ist nicht der geduldigste Mensch der Welt, und so ist es unwahrscheinlich, dass er noch zwei Jahre warten wird. Ich rechne damit, dass es vor Jahresende Neuwahlen geben wird.

Österreich will die Verhandlungen überhaupt stoppen. Warum treten Sie nur für ein Aussetzen der Gespräche ein?

Seien wir ehrlich: Selbst wenn die Türkei das demokratischste Land der Welt wäre, würde etwa der österreichische Außenminister nicht wollen, dass die Türkei ein Mitglied der EU wird. Viele Leute verstecken hinter der schlechten Menschenrechtslage der Türkei ihre prinzipielle Abneigung gegen die Beitrittsverhandlungen. Ich stimme zu, dass die Lage in der Türkei extrem schlecht ist, deshalb fordere ich die Aussetzung der Gespräche. Aber ich glaube dennoch, dass es eine gemeinsame Zukunft, eine gemeinsame Perspektive gibt.

Warum sollte die Türkei überhaupt EU-Mitglied werden?

"Erdoğan hat seine EU-Abstimmung schon gehabt"
PIRI Katalin - 8th Parliamentary term_Kati PIRI geboren am 8. April 1979, Celldömölk (HU) Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament
Die EU hat zugestimmt, dass der Prozess manchmal wichtiger ist als das Ergebnis. Aber so wie die Lage in der Türkei und in der EU derzeit ist, gilt es als völlig unwahrscheinlich, dass die Türkei im nächsten Jahrzehnt EU-Mitglied wird. Die Hälfte der Bevölkerung kämpft verzweifelt gegen den autoritären Trend in ihrem Land. Wenn man diesen Leuten jetzt sagt: Die EU ist nichts für euch, muss man sehr gute Argumente haben. Und wenn man jetzt den Stopp der Gespräche fordert, lauten die Argumente entweder: Die Türkei ist zu groß für die EU. Oder: Sie ist zu islamisch. Das alles wussten wir schon 2004.

Kann die EU Druck ausüben, um die Situation in der Türkei zu beeinflussen?

Wir als EU haben bei der Nutzung des Verhandlungsprozesses als theoretisch größtmögliches Druckmittel versagt. In den letzten 13 Jahren waren wir nie in der Lage die Schlüsselkapitel zu öffnen, dank derer wir hätten Druck ausüben können – etwa die Kapitel Grundrechte oder Justizreform. Zypern hat die Öffnung dieser Kapitel immer blockiert. Von Anfang an hat es also bei den grundsätzlichen Fragen nie wirkliche Verhandlungen gebeben.

Wo könnte also das Druckmittel der EU liegen?

In der Wirtschaft. Zwei Drittel der Direktinvestitionen in der Türkei kommen aus der EU. Seit 21 Jahren sind wir in einer Zollunion mit der Türkei. Diese Zollunion ist veraltet, muss nun modernisiert werden, und der Türkei liegt sehr viel daran. Verhandeln wir also über eine Reform der Zollunion, aber verbinden wir sie mit Forderungen und Eckpunkten, die sich in der Türkei verbessern müssen. Das wäre der Hebel für Reformen.

Wird Ankara den Flüchtlingsdeal als Druckmittel einsetzen?

Viele EU-Staaten wollen deswegen die Beitritts-Verhandlungen nicht aussetzen,weil sie befürchten, das Flüchtlingsabkommen könnte dadurch gesprengt werden. Aber das ist völlig unlogisch: Auch wenn wir die Gespräche suspendieren, haben wir nicht den Luxus, nicht mit der Türkei zusammenzuarbeiten. Die Türkei wird immer ein sehr wichtiger Nachbar sein. Unsere Wirtschaften hängen zusammen, wir müssen zusammenarbeiten im Kampf gegen den Terror, in der Syrienfrage – wir müssen von Integration zu Kooperation übergehen. Das ist das Beste, was wir von dieser Regierung kriegen können.

Außerdem hat Erdoğan mit dem Flüchtlingspakt nur diese einzige Karte. Und er ist nicht so dumm, dieses einzige Karte auch auszuspielen. Die sechs Milliarden Euro für die Versorgung von drei Millionen Flüchtlingen im Land ist für Ankara ein sehr wichtiger Betrag der EU.

Was, wenn Erdoğan selbst ein Referendum über ein Ende der Beitrittsverhandlungen der Türkei startet?

Er hat am 16. April schon sein Referendum gehabt. Wir alle wissen, dass die Türkei mit dieser Verfassung nie EU-Mitglied werden kann – und deswegen war das Verfassungsreferendum schon eine EU-Abstimmung.

Und wenn die Türkei die Todesstrafe wieder einführt?

Für die EU ist das ein absolutes No-Go. Dann müssen wird den Beitritts-Prozess mit der Türkei endgültig stoppen.

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