"Erdoğan geht es nur um Machterhalt"

Was die jüngste Inhaftierungswelle von Journalisten bedeutet, erklärt Türkei-Experte Cengiz Günay.

KURIER: Die türkische Polizei hat den Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet ("Republik") und 12 seiner Journalisten inhaftiert, angeblich wegen Gülen-Verbindungen. Was steckt dahinter?

Cengiz Günay:Die Anschuldigungen nehmen ein Ausmaß an, die für mich nur mehr absurd sind. Die betroffene Zeitung war bisher meist ausgenommen von den Verhaftungswellen, auch weil die Regierung einen kleinen Raum für oppositionelle Medien toleriert hat, als Ventil für den säkularen Sektor. Nun weiß niemand mehr, was die Kriterien sind, um verhaftet werden zu können. Derzeit scheinen alle, die oppositionell und damit gefährlich sein könnten, aus dem Weg geräumt zu werden.

"Erdoğan geht es nur um Machterhalt"
Cengiz Günay
Dürfen die Menschen auf rechtsstaatliche Verfahren hoffen?

Der Ausnahmezustand ermöglicht, dass man rechtsstaatliche Prinzipien leichter umgehen kann. Es werden derzeit sogar Gespräche zwischen dem Anwalt und dem Angeklagten abgehört. Durch den Anti-Putsch- und Anti-Terror-Vorwand ist der Rechtsstaat bereits jetzt massiv ausgehöhlt.

Also ist bereits Staatsfeind, wer nicht auf Seite des Präsidenten Erdoğan ist?

So schaut es im Moment aus. Es reicht schon, dass man ihm nur gefährlich werden könnte.

Warum macht Erdoğan das?

In der Türkei zieht sich die Schlinge immer mehr zu – auch für die Regierung. Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich massiv, Erdoğans Partei AKP ist eine Mehrheit nicht sicher. Eine Folge des Putsches ist, dass ein unsägliches Bündnis von AKP und den Nationalisten entstanden ist. Von den Nationalisten kommen Forderungen wie die Todesstrafe, und die AKP geht auf immer mehr ein.

Also entwickelt sich die Türkei in ein voll-autoritäres System?

Das hat damit zu tun, dass der geltende Ausnahmezustand diese Rechte und Möglichkeiten bietet und diese Notverordnungen alsbald zu Gesetzen werden. Für Erdoğan, der die Türkei ja in eine Wirtschaftskrise manövriert, ist es wichtig, die Reform in Richtung einer Präsidialrepublik rasch umzusetzen, weil ein Verfassungsreferendum unter den Bedingungen einer Wirtschaftskrise schwieriger zu gewinnen ist.

Wofür steht Erdoğan heute?

Er ist Opportunist und Populist mit autoritären Zügen, ein Pragmatiker, der flexibel genug ist, um sich an der Macht zu halten. Er hat schon Ideen, wie seine Türkei aussehen soll, aber das grundlegende Motiv seiner Politik ist der Machterhalt. Daher sind auch seine Koalitionspartner austauschbar, derzeit sind es Nationalisten.

Dazu kommt immer wieder ein Sehnen nach einem groß-osmanischen Reich. Wie ernst muss man diese Fantasien nehmen?

Das ist also vor allem Rhetorik, diese Idee ist ja offensichtlich gescheitert. Die Türkei steht in der Region isoliert da wie nie. Sie spielt im Nahen Osten nicht die Rolle, die sie gerne hätte. Auch, weil sie auf die falschen Akteure gesetzt hat, in Syrien oder auf die Muslimbrüder in Ägypten.

War die Türkei vor einigen Jahren nicht besser entwickelt?

Das liberaldemokratische Modell der Türkei, in der Islam und Marktwirtschaft durchaus kompatibel waren, das gibt es nicht mehr. Jetzt unterscheidet sich die Türkei immer weniger von Systemen wie von Präsident as-Sisi in Ägypten. Das Scheitern des liberal-islamischen Modells und des demokratischen Ideals liegt aber im globalen Trend neoautoritärer Tendenzen.

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