"Entwicklung ja, aber nicht zu diesem Preis"

Inderinnen demonstrieren gegen neue Kohleminen, für deren Errichtung ihnen Land weggenommen wird.
Industrie- und Infrastrukturprojekte brauchen Ressourcen. Das geht zunehmend auf Kosten der ländlichen Bevölkerung.

Indiens Wirtschaft wächst und ist hungrig nach Energie – die kommt vor allem aus Nordostindien, der "Powerbank" des Landes. Dort werden derzeit Staudämme, Solaranlagen und Kohleproduktion massiv ausgebaut. Premierminister Narendra Modi hat die Stromversorgung zur Chefsache erklärt.

"Entwicklung ja, aber nicht zu diesem Preis"
Walter Fernandes, Priester, Sozialforscher
"Mit dem Wachstum steigt auch die Armut", sagt Walter Fernandes im Gespräch mit dem KURIER. Vor allem die indigenen Bewohner, etwa acht Prozent der Gesamtbevölkerung, gehören zu den Verlierern dieser Entwicklungen, berichtet der Jesuit und Sozialforscher. Der Inder leitet das "North Eastern Social Research Center" im Bundesstaat Assam, dessen Studien von der Dreikönigsaktion unterstützt werden. Er beobachtet, dass man die Rechte der Bauern zunehmend aushebelt. Die Industrie wirbt ihnen etwa das Land zu einem Spottpreis ab oder bietet als Ausgleich wesentlich schlechtere Gebiete an. Man reißt die Bauern aus ihrer Umgebung und siedelt sie in Regionen aus, wo es keine Arbeit gebe, kritisiert Fernandes: "Entwicklung ja, aber nicht zu diesem Preis." Die Zukunft der Menschen wird am Reißbrett geplant, ohne ihre kulturellen und sozialen Strukturen zu berücksichtigen.

Dieses Problem brachte der 77-Jährige nun bei einem Kongress zu Landvertreibung in Genf vor. Er will, dass es in die Agenda der UNO aufgenommen wird. "Wir sind nicht gegen den Fortschritt. Wir wollen nur, dass die lokale Bevölkerung davon profitiert." Viele leben von der Landwirtschaft und sind Analphabeten. Der Sozialforscher schlägt vor, dass ihnen jene Unternehmen, die Land erwerben, auch Ausbildung und Arbeit geben sollen. "Das wäre zumindest ein Teil der Lösung."

Denn ohne Arbeit und Acker sind sie gezwungen, saisonal in Städte zu emigrieren: Frauen prostituieren sich, Kinder schlagen sich mit Arbeit auf Mülldeponien durch, um ihre Familien zu unterstützen. Dabei wurde erst im Juli ein Gesetz verabschiedet, das Kinderarbeit unter 14 Jahren verbietet. Ausnahmeregelungen gibt es aber für "Familienbetriebe". Auch "Sweatshops" oder Fabriken von Verwandten werden als solche eingestuft, sagt Fernandes. "Das Gesetz sieht vor, dass die Kinder nach der Arbeit in die Schule gehen müssen. Aber stellen Sie sich das vor, nach Stunden harter Arbeit noch etwas lernen?"

Konsumfreudig

Probleme, von denen die aufstrebende Mittelschicht wenig mitbekommt. Zwei Drittel davon leben in den Städten. Es ist die andere Seite Indiens. Gut ausgebildete junge Menschen, die im IT-Bereich oder Büros arbeiten, in ihren Autos auf vierspurigen Highways fahren. Und sich auch in ihren Konsumgewohnheiten kaum von Menschen im Westen unterscheiden, stellt Walter Fernandes fest. Aber auch dieser Aufstieg hat seinen Preis. Wohlstandskrankheiten wie Bluthochdruck und Übergewicht nehmen durch Junk-Food und wenig Bewegung zu. Während die Zahl der Diabetiker zwischen 1990 und 2013 weltweit um 45 Prozent zunahm, gab es in Indien sogar ein Plus von 123 Prozent, wie das "Institute of Health Metrics and Evaluation" herausfand. Die andere Seite des Gesundheitsproblems trifft wiederum den armen Teil der Bevölkerung: Laut Unicef sind 30 Prozent der indischen Kleinkinder noch immer unterernährt.

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