Entscheidung: Schicksalswahl in Venezuela

Unter dem wachsamen Auge der Erben des verstorbenen sozialistischen Präsidenten Chávez stehen Bürger in Caracas für Stimmabgabe an
Drei Szenarien, vom Bürgerkrieg bis zu Maduros Abgang, sind denkbar.

Tief polarisiert, voller Gewalt und scheinbar ohne Ausweg aus der schweren innenpolitischen Krise – so steht Venezuela heute da. Wenige Stunden vor der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung, der "Constituyente", wurde einer der Kandidaten in seinem Haus erschossen. Am Sonntag sicherten 200.000 Polizisten und Soldaten die Wahl.

Die Opposition hatte zum Boykott des Urnengangs aufgerufen. Denn die 545 Volksvertreter, die mehrheitlich der Regierung nahestehen, sollen die Machtarchitektur im Land neu ordnen. Die Opposition befürchtet das Ende der Demokratie und das endgültige Abgleiten in eine marxistische Diktatur, denn Präsident Nicolás Maduro will unter anderem das Parlament, in seiner bisherigen Ausprägung abschaffen.Dort hat die Opposition seit den letzten freien Wahlen 2015 die absolute Mehrheit. Maduro regiert aber seither mit Hilfe von Sonderdekreten und Ausnahmezustand. Als entscheidend für die Akzeptanz der Abstimmung am Sonntag ist im In- und Ausland die Wahlbeteiligung (stand bis Redaktionsschluss nicht fest). Nur wenn es den Sozialisten gelungen ist, viele Millionen Menschen zu mobilisieren, bekommt die Wahl einen demokratischen Anstrich.

Abhängigkeit vom Staat

Deshalb war der Druck auf alle, die vom Staat abhängig sind, enorm – und das sind sehr viele der 19,4 Millionen Wahlberechtigten: Mehr als fünf Millionen arbeiten für den Staat, und mindestens acht Millionen Bürger sind auf die Lebensmittelpakete, die sie vom Staat gegen Vorlage ihres "Carnet Patria" ("Vaterlandsausweis") bekommen, angewiesen. Sie sind durch diese Karte (mit Foto und Strichcode), die sie zur Wahl mitbringen müssen, kontrollierbar, wie Maduro offen zugab: "Von allen Karteninhaber werden wir wissen, ob sie ihre Stimme abgeben." Und notfalls – das sagte er nicht – könnte man diese Menschen vor Wahlschluss doch von der Stimmabgabe "überzeugen".

Entscheidung: Schicksalswahl in Venezuela

Eine niedrige Wahlbeteiligung wie vom seriösen Umfrageinstitut Datanalisis prophezeit, hätte verheerende politische Folgen für den Präsidenten, der alles auf diese Karte gesetzt hat. Nun sind drei Szenarien denkbar:BürgerkriegNach der Wahl zur "Constituyente" beansprucht der Präsident die Macht über das in regulären Wahlen gewählte Parlament. Er lässt die Parlamentarier aus dem Haus werfen, die Mitglieder der "Constituyente" ziehen ein. Die regulär gewählten Abgeordneten versuchen die "Nationalversammlung" mit Hilfe der Oppositionsbewegung auf der Straße zu verteidigen. Es kommt zum Bürgerkrieg und einer blutigen Räumung des Parlaments. Es folgen Verhaftungswellen, politische Prozesse, Hunderttausende flüchten.

Entscheidend für den Ausgang einer solchen bewaffneten Auseinandersetzung wird das Verhalten der Armee und Polizei: Schlagen sich Teile des Sicherheitsapparates auf die Seite der Bevölkerung ist eine Revolution denkbar. Verhalten sie sich loyal zum Präsidenten, ist ein Blutbad möglich. Dann droht auch ein internationaler Konflikt. Weil das Nachbarland Kolumbien unter der Massenflucht der Venezolaner leidet, fordern rechte Kräfte in Bogota, die bürgerliche Opposition in Venezuela zu unterstützen. Die Krise breitet sich zu einem regionalen Flächenbrand aus. Die USA greifen ein, in dem sie ein Öl-Embargo verhängen. Da Washington einer der wichtigsten Öl-Kunden und damit Geldgeber Venezuelas ist, wäre das gleichbedeutend mit dem endgültigen Zusammenbruch der am Boden liegenden Wirtschaft.

VerhandlungswegMaduro nutzt das Instrument der verfassungsgebenden Versammlung als Verhandlungsmasse in Gesprächen mit der Opposition. Die Kirche, im besten Falle Papst Franziskus, übernimmt die Vermittlung. Es beginnt ein zäher Verhandlungsprozess, der Maduro und den Sozialisten am Ende einen Amtsverzicht erhobenen Hauptes ermöglichen soll. Bereits jetzt wird nach Angaben der Regierung heimlich mit der Opposition verhandelt. Maduro dankt ab Massenproteste, schwache Wahlbeteiligung, internationaler Druck, die verhängten Sanktionen der USA und ein Angebot der Straffreiheit hinter den Kulissen lassen Maduro aufgeben. Er geht ins Exil nach Kuba, Venezuelas System bricht zusammen. Das Land versinkt im Chaos, es dauert Monate, Venezuela zu stabilisieren und die Institutionen neu aufzubauen.

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