Nach Jamaika: Fragen und Antworten

Wie geht es nach dem Abbruch der Koalitionsverhandlungen in Deutschland weiter? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Es war ein Satz, den Christian Lindner mit zitternden Händen vom Blatt las: "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren." Nach mehr als vier Wochen Gezerre um die immer selben Themen Klimaschutz, Flüchtlinge und Finanzen beendete der FDP-Chef am Sonntag kurz vor Mitternacht die Sondierungen. Und damit auch die Ära Merkel? Die Kanzlerin steht nach dem Scheitern der Gespräche vor ihrer schwersten Niederlage.

Sie beriet gestern mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der alle Parteien an ihre Verantwortung zur Regierungsbildung erinnerte. Und plädierte dann unaufgeregt im Fernsehstudio für Neuwahlen. Dies wäre "der bessere Weg" als eine "Minderheitsregierung", sagte sie am Montagabend in der ARD-Sendung "Brennpunkt". Sie sei bereit, "weiter Verantwortung zu übernehmen". Und verwies darauf, dass sie im Wahlkampf zugesichert habe, das Amt der Bundeskanzlerin für volle vier Jahre zu übernehmen. Das sei gerade einmal zwei Monate her, und "es wäre sehr komisch", wenn sie den Wählern nun allein aufgrund der FDP-Entscheidung sage: "Das gilt nicht mehr".

Wie geht es jetzt weiter?

Die Kanzlerin präferiert zwar Neuwahlen, darüber entscheiden kann aber nur einer: Frank-Walter Steinmeier. Der Bundespräsident ist der Mann der Stunde. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hatte der Staatschef eine wichtigere Rolle bei der Regierungsbildung als jetzt. Er kann den Bundestag auflösen und einen weiteren Urnengang veranlassen. In den nächsten Tagen will Steinmeier aber mit allen Parteien Gespräche führen. Die Regierungsbildung sei der höchste Auftrag der Wähler. "Das geht weit über die eigenen Interessen hinaus", betonte er.

Warum zögert Steinmeier und öffnet nicht gleich den Weg für Neuwahlen?

Der Bundespräsident ist sich seiner Verantwortung und Macht bewusst. Laut taz habe er sich schon als Student intensiv mit dem Ende der Weimarer Republik beschäftigt und zu gut im Kopf, wie schnell eine junge Demokratie scheitern kann. Im Grundgesetz wurden daher bewusst hohe Hürden aufgezogen, um den Bundestag nicht so einfach auflösen zu können. Steinmeier will dieses besondere Prozedere nicht verkommen oder gar Normalität werden lassen - für ihn ist es selbstverständlich abzuwarten und zu mahnen, bevor er Neuwahlen zulässt.

Wie könnte es dann aber zu Neuwahlen kommen?

Zunächst muss der Bundestag aufgelöst werden, das geht grundsätzlich über die Vertrauensfrage. Da Angela Merkel nur geschäftsführend im Amt ist, besteht die Möglichkeit nicht. Das Parlament aufzulösen geht nur über eine andere Variante: Es muss eine neue Kanzlerwahl geben. Entscheidend dafür ist Artikel 63 im Grundgesetz – eine Reaktion auf die Ereignisse der 1930er-Jahre. Bundespräsident Steinmeier muss dazu jemanden vorschlagen. Würde Merkel als Kandidatin die Mehrheit verfehlen, würde nach 14 Tagen noch einmal gewählt. Sollte sie es auch im zweiten Durchgang nicht schaffen, reicht es, wenn sie beim dritten Mal eine relative Mehrheit bekommt. Danach bleiben dem Bundespräsidenten zwei Möglichkeiten: Er kann Merkel zur Kanzlerin ernennen oder den Bundestag auflösen. Entscheidet er sich für Letzteres, muss binnen 60 Tagen gewählt werden.

Was haben die Parteien bei einem erneuten Urnengang zu befürchten?

Abgesehen davon, dass die Ergebnisse nur bei der AfD noch nach oben schnellen könnten, würden vor allem parteiinterne Querelen hochkochen – etwa die Frage neuer Spitzenkandidaten. In der SPD zerbricht man sich darüber schon den Kopf. Ob Martin Schulz erneut der Richtige ist, darüber wird nun zu entscheiden sein. Fakt ist, der Mann aus Würselen kämpft nach einer verpatzten Kampagne und teils unglücklichen Personalentscheidungen um seine Autorität. Auch inhaltlich ist die Partei in einem Findungsprozess, für eine neue Wahlstrategie bleibt kaum Zeit.

Auch seine künftige neue und alte Kontrahentin, Angela Merkel, musste nach dem Wahldebakel im September an Rückhalt einbüßen. Vor allem jene, die Merkels Politik kritisieren, werden erneut auf einen härteren Kurs im Wahlkampf pochen. Unterstützung hat sie hingegen schon von CSU-Chef Horst Seehofer. Er begrüßte Merkels Ankündigung, die Union im Falle von Neuwahlen erneut in den Wahlkampf zu führen.Sie habe in den vergangenen Wochen die Positionen der CSU zuverlässig unterstützt, auch in der Zuwanderungsfrage, meint der Noch-CSU-Chef. Seine Zukunft entscheidet sich in den nächsten Tagen.

Auch seine künftige neue und alte Kontrahentin, Angela Merkel, musste nach dem Wahldebakel im September an Rückhalt einbüßen. Vor allem jene, die Merkels Politik kritisieren, werden erneut auf einen härteren Kurs im Wahlkampf pochen. Unterstützung hat sie hingegen schon von CSU-Chef Horst Seehofer. Er begrüßte Merkels Ankündigung, die Union im Falle von Neuwahlen erneut in den Wahlkampf zu führen.Sie habe in den vergangenen Wochen die Positionen der CSU zuverlässig unterstützt, auch in der Zuwanderungsfrage, meint der Noch-CSU-Chef. Seine Zukunft entscheidet sich in den nächsten Tagen.

Warum kommt es nicht zu einer großen Koalition?

Rein rechnerisch wäre es möglich. Allerdings erteilte der Parteivorstand der SPD dem gestern eine klare Absage. Wie schon nach der Bundestagswahl betonten die Sozialdemokraten, dass sie nicht für eine erneute große Koalition zur Verfügung stehen. Parteichef Martin Schulz hatte noch Sonntagabend bekräftigt, dass die SPD nicht den Retter spiele, wenn Jamaika scheitert. Lieber würde er Neuwahlen in Kauf nehmen.

Als weitere Alternative gilt eine Minderheitsregierung. Wie würde diese aussehen?

Diese Konstellation ist ein Novum. Lassen sich Union und FDP auf eine Minderheitsregierung ein, würden ihnen 29 von 709 Sitzen im Bundestag auf eine Mehrheit fehlen. Das Gleiche gilt für das Bündnis Schwarz-Grün; es bräuchte 42 Sitze zur Mehrheit. Der Haken an einer Minderheitsregierung: Sie gilt als instabil, weil sie eben auf andere angewiesen ist. Große Projekte wären so jedenfalls nur unter großen Konzessionen an wechselnde Partner durchzubringen. Spätestens wenn Mitte 2018 der neue Bundeshaushalt verabschiedet werden muss, liefe Deutschland möglicherweise auf eine politische Krise zu. Angesichts dessen ist der Anreiz für die Kanzlerin nicht besonders groß.

Wie standen Grüne, FDP und CSU zu dieser Beteiligung?

Die FDP, die wegen des Platzen-Lassens der Sondierungsgespräche scharfer Kritik ausgesetzt ist, zeigte sich am Montag bereit, eine etwaige Minderheitsregierung zu unterstützen. "Wenn es gute Initiativen gibt, dann stehen wir zur Verfügung", sagte Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann. Die Grünen zeigten sich grundsätzlich offen, aber nicht konkret. Es müsse abgewartet werden, was die Gespräche der Parteienvertreter beim Staatsoberhaupt ergeben würde, um zu beurteilen, wie es nach dem Ende der Sondierungen weitergehe, erklärte Parteichef Cem Özdemir.

Horst Seehofer erteilte der Konstellation aufgrund der Vorfälle mit der FDP bereits eine Absage. Nachdem die Liberalen ihre Partner am Sonntag derart überrumpelte, lässt sich dieser Bruch in der aufgeladenen Stimmung nicht so schnell kitten. Im Schulterschluss zeigten sich Union und Grüne enttäuscht, verärgert und fanden schnell eine gemeinsame Botschaft: Man stand kurz vor einer Einigung. Für CSU-Chef Horst Seehofer war sie zum "Greifen nah". Das bestätigte auch Grünen-Mann Anton Hofreiter. Bei Migration und Flucht zeichnete sich ein Kompromiss zwischen CSU und Grünen ab, berichtete der Unterhändler. Auch die Liberalen hätten profitiert, so Hofreiter. Wenn es bei der FDP nun heiße, sie hätte bei Bildung, Digitalisierung und Entlastung der Bürger keine Zugeständnisse bekommen, sei das "schlichtweg falsch". Ein kompletter Abbau des Solis wäre vereinbart worden, wenn auch nicht in einer Legislaturperiode.

Fünf Minuten vor Mitternacht verkündete FDP-Chef Christian Lindner am Sonntag in Berlin das Aus der Sondierungsgespräche. Der 38-Jährige sprach von "wenigen gemeinsamen Vorstellungen" und "fehlendem Vertrauen" zwischen den vier Parteien. Mit den bis dahin ausgehandelten Maßnahmen würden die Liberalen ihre Grundsätze aufgeben und ihren Wählern die versprochenen "Trendwenden" schuldig bleiben. "Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren", beendete er seine Erklärung.

Nur wenige Minuten später fand sich bereits auf dem Twitter-Account der Liberalen eine Grafik, magenta auf gelb, mit dem neuen Slogan: "Lieber nicht regieren als falsch." Nicht nur das machte die anderen Gesprächspartner stutzig, sie unterstellten der FDP ein klares Kalkül. Oder, wie es Julia Klöckner, CDU-Vizechefin, formulierte: Dass die FDP "kurz vor der Einigung" abgesprungen sei, habe mehr als nur eine Person verwundert.

Doch Lindner hatte bereits vor Beginn der Gespräche im KURIER-Interview betont: "Es muss Trendwenden geben, wenn die FDP der Regierung angehören soll." Und von "kurz vor der Einigung" könne wirklich keine Rede sein, sagte Wolfgang Kubicki am Montag. Der Ball liege nun bei Union und SPD.

In der bald 70-jährigen Geschichte der FDP war sie stets zur Stelle, wenn sich eine Chance bot, Teil der Bundesregierung zu sein: "Verlässlich flexibel", wie es der Spiegel kommentierte, agierten die Freien Demokraten für SPD wie Union als Mehrheitsbeschaffer. 2013 endete das für die FDP traumatisch: Nach vier Jahren schwarz-gelber Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel flog die FDP aus dem Bundestag. Das Grundübel, ergab die Analyse danach, seien schwere Fehler bereits bei den Koalitionsverhandlungen 2009 gewesen.

Schlechte Erfahrungen

Diese Erfahrung sitzt den Liberalen noch in den Knochen. Insofern klingt Lindner, der die FDP mit hartem Einsatz bei den Wahlen im September zurück in den Bundestag holte, glaubhaft, wenn er von Prinzipien spricht, die er nicht über Bord werfen kann und will. "Ich habe die FDP nicht zurück ins Parlament geführt, um in einer Regierung ohne eigene Akzente zu arbeiten", hatte er erst kürzlich gesagt.

Er werfe es seinen drei Gesprächspartnern nicht vor, auch an ihren Prinzipien festzuhalten. Wenn vier Partner nicht in der Lage seien, schon beim Absehbaren einen gemeinsamen Plan zu entwickeln, "ist das keine Voraussetzung dafür, dass auch auf das Unvorhergesehene angemessen reagiert werden kann", gab er zu bedenken.

In der Union wurde gemutmaßt, er hoffe, bei Neuwahlen damit punkten zu können. Doch das bezweifelt Meinungsforscher Manfred Güllner. Die Liberalen seien immer nur stark gewesen, wenn Wähler das Gefühl hätten, sie könnten als Korrektiv in einer Regierung wirken.

Entscheidungen von großer Tragweite, die die Europäische Union in den nächsten Wochen zu treffen hätte, stehen vorerst nicht an. Trotzdem ist man in Brüssel wenig darüber begeistert, dass das mächtigste Land Europas weiter ohne stabile Regierung da steht. Echte Impulse aus Deutschland bleiben aus, so manch drängendes Thema wird hinausgeschoben. Die geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel wird in der EU zwar unverändert mitreden, ihr perfekt arbeitender Verwaltungs- und Diplomatenapparat wie gewohnt mitarbeiten, aber die Schubkraft des deutschen EU-Motors steht bis zur Bildung einer Regierung auf Null.

Beim Afrika-Gipfel der EU in der kommenden Woche wird Merkel wohl dabei sein, doch auf den Weg gebracht wird dort ohnehin nur, was schon längst beschlossene Sache ist.

Interessant auch die Wahl des Eurogruppenchefs am 4. Dezember: Deutschland hätte beantragen können, die Kür des Jeroem-Dijsselbloem-Nachfolgers zu verschieben. Doch Berlin tat es nicht. Und so kann angenommen werden, dass ein neuer Eurogruppenchef gewählt wird, mit dem Berlin leben wird müssen. Ganz gegen den Strich wird dieser Neue aber Berlin nicht gehen, so viel Durchsetzungskraft in den europäischen Gremien hat die deutsche Führung auch ohne neu aufgestellte Regierung.

Und da wäre noch der EU-Gipfel im Dezember, bei dem die Reform der Eurozone zur Debatte steht. Bringt Berlin nicht sein ganzes Gewicht aufs Tapet, wird der Vorteil beim französischen Präsidenten Emmanuel Macron liegen. Und was das Brexit-Verfahren betrifft: Deutschland hat sich in die Verhandlungslinie der anderen 26 EU-Staaten eingereiht, die künftig ohne London leben werden. Entscheidungen fallen in dieser Frage gemeinsam, egal, ob mit oder ohne Jamaika-Koalition in Berlin.

Niemand hätte eine Einigung mehr gebraucht, als die Kanzlerin. Mit dem historisch schlechten Wahlergebnis von knapp 33 Prozent im Nacken startete sie vor mehr als vier Wochen in die Sondierungsgespräche. Nach deren Scheitern rechneten manche Beobachter durchaus mit dem Rücktritt der Kanzlerin.

Doch diese sieht keinen Anlass dazu - es gäbe aber auch keine Alternativen. Merkel hat es bisher nicht geschafft oder versucht, Erben aufzubauen. Der als Merkel-Nachfolger gehandelte Jens Spahn, 37 Jahre alt, der keinen Konflikt auslässt, gilt als nicht konsensfähig. Und er steuert in einer klare Richtung, die nicht alle teilen: streng konservativ.

Klarheit über Merkels Nachfolge verlangte jüngst Daniel Günther. In mehreren Interviews forderte der 44-Jährige "neue Gesichter in Führungspositionen", geeigneter Nachwuchs stehe bereit. Einen Bonus hat der Ministerpräsident gegenüber der Kanzlerin jetzt schon. Er schaffte das, was Merkel nicht gelang: Jamaika, allerdings in Schleswig-Holstein. Da er dort gebraucht wird, geht es für ihn vorerst nicht nach Berlin. Die CDU käme also nicht um Merkel herum.

Anders in der CSU. Hier sind die Personalreserven bekannt, seit Jahren tobt ein Machtkampf, der sich vielleicht noch in dieser Woche entscheidet. Horst Seehofer ist ein Parteichef auf Abruf, nutzte die Sondierungen als Schonfrist. Nachdem er nun mit leeren Händen nach Bayern zurückkehrt, werden die Rufe nach seiner Ablöse lauter. Sein größer Rivale liegt längst auf der Lauer. Doch neben Markus Söder wollen sich auch andere behaupten. Dass sich CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt in den Sondierungen erbarmungslos in die Grünen verbiss und den beinharten Verhandler gab, zeigt seine Entschlossenheit, in einer Zeit nach Seehofer ganz vorne mitspielen zu wollen.

An Stühlen gesägt wird auch in der SPD. Zwar befindet sich die Partei mitten in der Sinnkrise, muss noch ausloten, in welche Richtung es gehen soll. Doch der Kompass von Oppositionsführerin Andrea Nahles und Mecklenburgs Ministerpräsidentin Manuela Schwesig dreht angeblich klar Richtung Kanzleramt. Ob sie sich – im Falle von Neuwahlen – dazu hinreißen lassen? Dass Martin Schulz wieder kandidiert, ist aufgrund des Wahldebakels schwer vorstellbar. Ebenso, dass er die Partei weiter anführen wird, was er selbst aber immer wieder betont. Für diesen Fall bietet sich Olaf Scholz an. Hamburgs Bürgermeister sparte zuletzt nicht mit Kritik. Falls er den Chefsessel übernehmen will, hätte er demnächst beim Parteitag Gelegenheit.

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