Die Nacht des Mauerfalls: Augenzeugen erinnern sich

Die Nacht des Mauerfalls: Augenzeugen erinnern sich
Plötzlich frei: Vor 25 Jahren fiel die Berliner Mauer.

Völlig unerwartet brach eines der wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts über Berlin und die Welt herein. Zum Auftakt der KURIER-Serie zum 25. Jahrestag des Mauerfalls erinnern sich Menschen an ihre einzigartigen Erlebnisse in Berlin in dieser Nacht.

KURIER-Serie: Was Sie in den nächsten Tagen noch erwartet

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kurier.at/freiheit

Erinnerung an damals: Was wir 1989 sahen

Eigentlich war es eine Kinderfreundschaft, dann aber, Sommer 1989, wurde eine Jugendliebe daraus. Stefanie, gerade 18 geworden, traf Jan wieder, mit dem sie schon als Kind so viele Sommer an der Ostsee verbracht hatte. Jahr für Jahr war Stefanies Familie damals an die Ostsee und damit in die DDR gefahren. Für Westdeutsche ganz ungewöhnlich, bei ihnen aber Familientradition, hatte doch der Großvater schon – lange, bevor es eine Mauer gab – in diesem Haus seine Sommer verbracht.

Irgendwann in diesem Sommer gab es eine Liebeserklärung Jans, danach ein mehr als romantisches Wochenende in der Heimat des jungen Fotografen – und dann schließlich seinen Heiratsantrag. "Ich zieh’ das jetzt durch", war Stefanies Gedanke – und das tat sie auch. Der Kampf gegen die DDR-Bürokratie war lang und mühselig. Schließlich aber, am 4. Oktober 1989, heirateten die beiden in Schönhausen, Ostberlin. Von da an lief das Verfahren, um den frischgebackenen Ehemann in den Westen zu bringen. Im DDR-Systemjargon hieß das "Eheschließung mit anschließendem Wohnungswechsel".

Wieder vergingen Wochen, dann bekam Jan die Ausreiseerlaubnis. Stefanie holte ihn am Bahnhof Friedrichstraße ab. Es war der 8. November 1989, und der junge Sachse sah zum ersten Mal im Leben den Westen. "So bunt alles hier", diesen Satz, erinnert sich Stefanie, habe Jan immer und immer wieder gesagt, als sie über den Kurfürstendamm spazierten. Stefanies kleine Wohnung lag im Zentrum von Westberlin, und dort zog der frisch über die Grenze geschaffte Ehemann schließlich am Ende dieses Tages ein.

Dass die Mauer in den nächsten 24 Stunden fallen sollte, das wäre ihnen, da ist sich Stefanie noch heute sicher, nicht einmal im Traum eingefallen: "Wir haben bis zuletzt nicht damit gerechnet, konnten uns nicht vorstellen, was da losbrechen würde."

Noch weniger aber konnten sich die beiden vorstellen, wie rasch sie die Wende persönlich überrollen würde. Am 9. November, mitten in der Nacht, läutete es an der Tür. Draußen standen Jans Bruder, mit seiner Frau und der kleinen Tochter am Arm. Sie hatten sich direkt von der geöffneten Grenze zu Stefanies Wohnung durchgeschlagen – und dort blieben die drei Ossis erst einmal.

Drei Stunden, mehr können es nicht gewesen sein, hatte Ewald König in der Nacht auf den 9. November in seinem Mietwagen unweit der tschechischen Grenze geschlafen. Stundenlang war der österreichische Journalist zuvor auf BRD-Seite am Grenzbalken gestanden, wo sich eine endlose Schlange von Trabis Stunde um Stunde über den inzwischen löchrigen Eisernen Vorhang quälte. Die von den DDR-Zweitaktern verpestete Luft hat König nicht vergessen, aber auch all die Schicksale, die sich da vor der Grenze aufreihten: "Da war jeder Trabbi eine Geschichte." Nach dieser Nacht kehrte er nach Bonn zurück, allerdings nur um Wäsche zu wechseln. Denn am Abend des 9. war der Journalist schon wieder in Berlin – und bei der historischen Pressekonferenz von Günter Schabowski. Der palaverte eine Stunde lang üblichen DDR-Systemjargon über nichts. Der ORF-Korrespondent war schon gegangen und König konnte sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten. Er stand schon beim Ausgang, bereit "zu gehen, wenn’s fad wird", als Schabowski schließlich, ratlos in seine Papiere blickend, auf die Frage, ab wann denn die Öffnung gelte, antwortete: "Nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich".

"Mir war auch da noch nicht klar, dass die Mauer fällt", gibt König heute freimütig zu. Ein paar Stunden später war alles anders. König stand beim Brandenburger Tor, verbrachte seine nächste schlaflose Nacht auf den von feiernden DDRlern verstopften Straßen und lernte Menschen kennen, wie den DDR-Baggerfahrer, der ihm mit den Worten: "Ich hab’ diese Mauer selbst gebaut", um den Hals fiel.

Buchtipp: Ewald König, "Menschen, Mauer, Mythen" Mitteldeutscher Verlag

Lächelnd Parfümproben verteilen, Lippenstifte empfehlen: Beraterin für den Kosmetikkonzern Estee Lauder, das war für Bettina Wertheim einfach ein Studentenjob. Doch an diesem Morgen war alles anders. Vor den Toren des Berliner Kaufhaus des Westens drängten sich schon lange vor neun Uhr früh Tausende Menschen. Die Mauer war in der Nacht gefallen, und für viele DDRler führte der erste Weg in die Freiheit direkt zu Westberlins berühmtem Einkaufstempel am Kurfürstendamm. Die Berlinerin kann sich noch heute an die "komplette Fassungslosigkeit" erinnern, mit der die verschüchterten Ossis durch den Verkaufsraum irrten: "Als wäre ein Ufo gerade vor ihrer Nase gelandet." Sie erlebte Menschen, die beim Anblick einer großen Flasche After Shave ansatzlos in Tränen ausbrachen: "So als könnten sie gar nicht begreifen, dass es das alles wirklich gibt."

Erst nach einiger Zeit habe sich dann eine Dame mit einer Frage schüchtern an sie gewandt, einer Frage, wie man sie eben nur in der DDR stellen konnte: "Entschuldigen Sie, haben Sie noch Lippenstift?" In einem Kaufhaus, in dem es Tausende Lippenstifte von unzähligen Marken und in allen nur erdenklichen Farben gab, war das natürlich schwierig zu beantworten. Schwierig war natürlich auch der Umgang mit den DDR-Mark, die die neuen Besucher kauflustig aus der Tasche zogen. Erst nach eingehender Beratung habe das Kaufhaus-Management beschlossen, diese auch zu akzeptieren, allerdings zum Wechselkurs von ein zu zehn. Dass der begehrte Lippenstift damit dann 320 Ostmark kosten sollte, bremste die Kauflust doch ziemlich dramatisch. Die meisten Besucher von drüben hätten sich darauf beschränkt, die Gratisausgabe eines Magazins mitzunehmen, die im Kaufhaus auflag – "die aber haben sie gleich stapelweise weggetragen, einfach weil Verkaufspreis 10 D-Mark draufstand."

Einen Monat vor dem Mauerfall, am 9.Oktober, wurde Stefan Richter klar, "dass da etwas passiert ist, das sich nicht umkehren lässt." Der Berliner stand damals unter den 70.000 Demonstranten in Leipzig, bei der Demo, die der DDR-Regierung das Genick brechen sollte:"Uns war klar, dass dieses System seinem Ende entgegen geht. Nur wie, wusste keiner."

Richter erinnert sich an "dieses Erlebnis der Gewaltlosigkeit einer Bewegung, die sich nicht aufhalten lässt". Er sollte dieser Bewegung folgen, bis er in der Nacht des Mauerfalls am Grenzübergang Bernholmer Straße stand. "Es war ein Erlebnis von Anarchie. Man bringt ein System zum Einsturz – und niemand weiß, was danach passiert."

"Für uns war die Wiedervereinigung kein Thema – Kohl keine Option", schildert der damalige Bürgerrechtler die andere Idee von der Wende, die systemkritische DDR-Intellektuelle verfolgten: "Wir hatten diese Idee, ein paar Jahre lang politisch etwas auszuprobieren. Dass ,Wir sind ein Volk‘ alles andere verdrängen würde, damit haben wir nicht gerechnet. Man hat uns den Spielraum weggenommen."

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