Deutschland verschärft Ton: Daumenschrauben für Erdoğan
Es ist vorbei mit der Gelassenheit, die der deutschen Regierung im Umgang mit der Türkei oft vorgeworfen wurde. Außenminister Sigmar Gabriel zeigt erstmals Zähne – zumindest diplomatisch. Scharf und klar war seine Ansage: Mit den jüngsten willkürlichen Verhaftungen verlasse sie nicht nur den Boden europäischer Werte, sie entferne sich auch von dem, "was sich die NATO als Wertebündnis als Selbstverständnis gegeben hat".
Steudtner wird vorgeworfen, er habe eine bewaffnete Terrororganisation unterstützt, seien aber hanebüchen, sagte Außenminister Gabriel. Aber Grund, um Konsequenzen zu ziehen: "Wir können daher gar nicht anders, weil wir für den Schutz unseres Landes verantwortlich sind, als unsere Reise- und Sicherheitshinweise in die Türkei anzupassen, und die Deutschen wissen zu lassen, was ihnen geschehen kann, wenn sie in die Türkei reisen."
Erdoğan peilt Bruch an
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sein Spiel jedenfalls zu weit getrieben – ungeachtet der wirtschaftlichen Zukunft seines Landes, erklärt Turkologe Jens Peter Laut von der Universität Göttingen. "Deutschland galt als wirtschaftliches Vorbild, aber auch als mäkeliger Besserwisser – und dem will man es jetzt zeigen." Er ist überzeugt, dass Erdoğan einen Bruch anpeilt: "Er wartet nur darauf, seinem Volk verkünden zu können, der arrogante Westen hat keine Macht mehr über die Türkei." Vielmehr setzt er auf die Allianz mit Russland, China und der arabischen Welt, sagt Laut – "was aber erfolglos sein wird."
Auch das Erdoğan immer wieder das Osmanische Reich Vorbild als preist, sei ein Trugschluss: "Es war alles andere als ein Paradies. Er hat anscheinend vergessen, dass die Beziehungen zu den Persern und Arabern nie wirklich gut waren, es gab ständig Kämpfe und wenn sie sich heute mit ihnen über die Türken unterhalten, ist das Bild gar nicht positiv." Erdoğan wäre also gut beraten, sich zu mäßigen, sagt der Experte. Bisher tat er es jedenfalls nicht.
Viele Konfliktpunkte
Denn der Fall Steudtner ist nur einer von vielen Konfliktpunkten: da wären das Besuchsverbot für Bundestagsabgeordnete bei in der Türkei stationierten deutschen Soldaten, die Auftrittsverbote türkischer Politiker in Deutschland oder die Armenien-Resolution, in der der Bundestag die Gräuel an den Armeniern als "Völkermord" einstuften. Die Türkei leide seit langem unter dem Syndrom des "Nicht-Ernst- Genommen-Werdens", sagt der Türkei-Experte. Und Erdoğan ist das Sprachrohr dieser Interessen. Er kommt aus jenem Milieu, das sich der islamischen Welt zugehörig fühlt, weiß Laut, der seit den 1970er Jahren die Türkei bereist. "Gleichberechtigung, Aufgeben der islamischen Lebensweise, haben die Kemalisten in Anatolien zu verbreiten versucht, ohne, dass sich die Menschen tief damit identifiziert haben." Er zitiert einen Satz aus den 70er-Jahren, der im Moment noch eine gewisse Gültigkeit hat: "Die Türkei könnte das erste Land in der islamischen Welt sein, sie hat es vorgezogen, das letzte Europas zu sein."
Und obwohl sich selbst Erdoğan nie ernsthaft Bemühungen oder Interesse daran hatte, sich mit europäischen Werten auseinanderzusetzen, gelang es ihm, die Wirtschaft im Lande anzukurbeln. Die deutschen Maßnahmen könnten daher eine extrem große Belastung werden, sagt Experte Laut. Als "politische Verantwortungslosigkeit" wies sie der türkische Regierungssprecher zurück.
Neun Deutsche in Haft
Abgesehen von den deutschen Aktivisten sind die Gefängnisse seit dem Putschversuch vor einem Jahr auch mit zig türkischen Journalisten, Wissenschaftlern oder ehemaligen Staatsbediensteten besetzt. Andere wiederum verloren ihre Jobs, weil sie wegen angeblicher Nähe zur Gülen-Bewegung suspendiert wurden. Eine ebenso besorgniserregende Tendenz: "Die Türkei schafft sich ein Lumpenproletariat von ehemaligen gut besoldeten Beamten, die nun vor dem Nichts stehen."
Was dem Turkologen Jens Peter Laut noch mehr Sorge bereitet, sind die westlich-orientierten Türken, die Angst haben, dass die Brücken zu Europa nun endgültig zusammenbrechen. Dass Erdoğan sie besonders im Visier hat, machte er in seiner Ansprache am Sonntag deutlich: "Er sprach davon, dass es ihm egal ist, was Hans und George sagen (eine Anspielung auf die EU-Staaten Deutschland und Großbritannien) - denn er achte darauf, was Ahmet, Mehmet, Hasan, Hüseyin, Ayse, Fatma und Hatice sagen. Das sind alles rein religiöse Namen, viele säkulare Türken haben ganz andere Namen," sagt der Experte. Diese lehne Erdoğan ab, genauso wie alles andere, das nicht seiner Weltsicht entspricht.
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