Glaubenskrieg ums Sitzenbleiben

Niedersachsens neue Regierung schafft die „Ehrenrunde“ ab – und entfacht einen heftigen Streit.

Mit der knappsten Mehrheit von einer Stimme im Landtag von Hannover trat die neue SPD-Grün-Koalition am Dienstag ihr Amt an. Nach zehn Jahren in der Opposition will nun der neue Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) mehr sozialdemokratische Gesellschaftspolitik durchsetzen: Eines ihrer ersten Projekte ist die „mittelfristige“ Abschaffung des Sitzenbleibens.

Damit ist Niedersachsen das konsequenteste Bundesland. Fünf andere haben diese Hürden für schlechte Schüler teilweise schon erleichtert oder experimentieren damit. Alle werden von SPD- oder Grün-geführten Koalitionen regiert, zuletzt hatte die neue grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg die stufenweise Abschaffung des Sitzenbleibens angekündigt.

Fallende Tendenz

Weil Bildungspolitik das letzte große Feld ist, wo die Bundesländer autonom entscheiden können, ist sie in den letzten Jahrzehnten ein heftiger Streitpunkt nicht nur vor Ort sondern auch zwischen den Ländern geworden.

Unionsgeführte Bundesländer machen weiter eine leistungsbetontere und selektivere Schulpolitik. Im CSU-regierten Bayern ist die Abschaffung der „Ehrenrunde“ daher genauso wenig geplant wie im „schwarzen“ Hessen oder Sachsen. Diese Länder halten auch gar nichts von der Gesamtschule für alle, die Rot-Grün als Ideal vorschwebt. Insgesamt bleiben derzeit in Deutschland jährlich 170.000 oder zwei Prozent aller Schüler sitzen. Bei fallender Tendenz.

So hat Hamburgs SPD-Alleinregierung das Sitzenbleiben bis zur neunten Schulstufe schon abgeschafft und will es bis 2017 ganz tun. In Berlin bleiben Volksschüler praktisch nicht mehr sitzen und Gymnasiasten viel seltener als früher, weil die als „nicht genügend“ geltende „Sechs“ in einem Kernfach dazu nicht mehr ausreicht. Die zwei größten Städte sind die Vorreiter der Vereinfachung, auch bei der Abschaffung der Hauptschulen.

Gesellschaftspolitik

Sozialdemokraten und Grüne sehen im Sitzenbleiben eine systematische Benachteiligung Schwächerer, die sie auf allen Gebieten ausmerzen wollen. Praktisch argumentiert etwa die Grünen-Chefin und Schulministerin von Nordrhein-Westfalen Sylvia Löhrmann damit, dass Sitzenbleiben „Verschwendung von Lebenszeit“ sei. Die Motivation der Schüler und damit auch das Niveau der Schule werde nicht mehr mit Angst sondern individueller Förderung gesichert: Mehr öffentliche Mittel für Nachhilfe soll ein Defizit der Leistungen verhindern. Niedersachsen will dafür bis zu einer Milliarde Euro in vier Jahren bereitstellen, weiß allerdings nicht, woher diese Mittel kommen sollen.

Aber auch das Argument überzeugt die Befürworter der herkömmlichen Schule nicht. So plädieren die Lehrerverbände überwiegend für das Sitzenbleiben-Können. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus in der Welt: „ Die Abschaffer haben ein total idealisiertes Bild der Schüler. Sie tun so, als sei immer nur das System schuld.“ Ein beachtlicher Teil der Schüler brauche den Druck, „um mehr in die Schule zu investieren“.

Lehrer wie Schulpolitiker der Unions-geführten Länder verweisen auch auf die Pisa-Studien, die eindeutig und gleichbleibend zeigten: Je geringer der Leistungsdruck, desto geringer die Leistungen. Bayerische Maturanten sind laut Pisa im Schnitt bis zu zwei Lernjahre ihren Altersgenossen in Berlin voraus – mit allen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und den Studieneintritt. Deswegen wird dort auch weiter Sitzengeblieben – und wohl auch fleißiger gelernt.

Deutschland

– In den Volksschulen wird das Sitzenbleiben unterschiedlich gehandhabt. Immer mehr Länder schaffen verbindliche Noten ab, über die Versetzung entscheiden Lehrer oder Direktor mit oder ohne Rücksprache mit den Eltern. Hauptgrund fürs Sitzenbleiben ist mangelnde Sprachkompetenz.

– In den Gymnasien sorgten lange die schlechtesten Noten „Fünf“ und „Sechs“ in einem Kernfach (Mathematik, Deutsch, erste Fremdsprache, Physik, Chemie) für das Sitzenbleiben. Seit 15 Jahren wird in einigen Ländern der Lerndruck gelockert durch unterschiedliche, zusätzliche Nebenbedingungen (Notendurchschnitt, Lehrerkonferenz-Beschluss etc.).

Österreich

– In den Volksschulen gibt es die flexible Schul- eingangsphase. Das heißt: Ein Kind hat für die ersten zwei Schuljahre drei Jahre Zeit. So bleibt den Schülern das Stigma des Sitzenbleibens erspart.

– Grundsätzlich muss ein Kind die Klasse wiederholen, wenn es zwei oder mehr Fünfer hat. Hat es nur ein „Nicht genügend“, entscheidet die Klassenkonferenz, ob der Schüler aufsteigen darf oder nicht. Mit der modularen Oberstufe wird das anders: Dann darf ein Schüler auch mit zwei Fünfern aufsteigen. Er muss die nicht bestandenen Module allerdings bis zur Matura nachholen. Schafft er das nicht, kann er auch nicht zur Reifeprüfung antreten.

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