Der Osten vor der Explosion

Kiews Truppen kommen bei ihrer Offensive gegen die pro-russischen Rebellen kaum voran. Der Blutzoll steigt.

Die drei vergangenen Tage des Chaos und der Gewalt im Osten und Südosten der Ukraine haben das Land gefährlich nahe an den Rand eines Bürgerkrieges getrieben. Die am Freitag begonnene Militäroffensive der ukrainischen Armee gegen pro-russische Rebellen in mehreren ostukrainischen Städten kommt kaum voran. Feuergefechte wurden gestern aus sechs Städten gemeldet, darunter aus Slowjansk, Kramatorsk und Lugansk. Doch den ukrainischen Soldaten gelang es nur in wenigen Fällen, Straßenblockaden zu sprengen oder besetzte Verwaltungsgebäude von den pro-russischen Separatisten zurückzuerobern.

Ausgebrannte Gebäude

Aus der 160.000 Einwohner zählenden Stadt Kramatorsk, die die ukrainische Armee schon als "befreit" gemeldet hatte, berichtet Ulrich Schmid, Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) Gegenteiliges: Im mit Sandsäcken verbarrikadierten Rathaus sitzen nach wie vor pro-russische Aktivisten. Ausgebrannte Gebäude und Fahrzeuge sind zu sehen, nachts verstecken sich die Bewohner in ihren Kellern.

Gelingt der ukrainischen Armee dennoch die Rückeroberung eines Straßenzuges oder Gebäudes, verliert die Staatsmacht sofort an anderen Fronten: In Donezk stürmten Samstagnacht an die hundert Männer in paramilitärischen Uniformen das Polizeihauptquartier der Stadt. In der Hafenstadt Mariupol kämpften Sicherheitskräfte und pro-russische Militante gegeneinander, als letztere weitere Verwaltungsgebäude besetzen wollten.

Im südukrainischen Odessa überrannten gestern ebenfalls pro-russische Aktivisten die Polizeizentrale der Stadt. Die wehrlosen Polizisten öffneten freiwillig alle Gefängnistüren, um jene rund 200 Verdächtigen freizulassen, die nach den blutigen Straßenschlachten vom Freitag festgenommen worden waren. Mehr als 40 Menschen waren am Wochenende in Odessa umgekommen. Die Sicherheitskräfte hatten tatenlos zugesehen, wie pro-russische und pro-ukrainische Demonstranten mit Stöcken, Steinen und teilweise Schusswaffen aufeinander losgegangen waren.

Ukraines Premier Jazenjuk feuerte daraufhin die gesamte Polizeiführung der Stadt – doch in nahezu allen Städten des Ostens der Ukraine bietet sich das selbe Bild. Die Polizei stellt sich den Rebellen nicht entgegen, die öffentliche Ordnung beginnt zusammenzubrechen, erste Polizisten haben begonnen, die Seiten zu wechseln.

Für das Ausmaß des Gewaltexzesses in Odessa aber macht die ukrainische Regierung Russland verantwortlich. Moskau wolle offenbar auch im Süden der Ukraine Chaos und Instabilität verbreiten, wie es dies bereits im Osten des Landes getan habe. Die Führung in Kiew wirft Russlands Präsident Putin vor, die für 25. Mai geplanten Präsiden-tenwahlen torpedieren zu wol-len, indem die unter Moskaus Einfluss stehenden Milizen in der Ostukraine Gewalt säten.

Tatsächlich sagte gestern der Sprecher des Präsidialamtes in Moskau, Wahlen unter den jetzigen Umständen seien absurd. Der Kreml forderte erneut, dass Kiew sofort seinen Militäreinsatz im Osten des Landes beendet.

Seit Mitte April kommt die ostukrainische Stadt Slowjansk nicht mehr aus den Schlagzeilen. Maskierte, bewaffnete Männer besetzten erst die Polizeistation, dann andere öffentliche Gebäude. Ihr Kommandant, Wjatscheslaw Ponomarjow (49), ernannte sich selbst zum Bürgermeister. Bis dahin habe er eine Seifenfabrik geführt, sagte er.

Eine Woche lang hielt er gemeinsam mit seinen Männern sieben Mitglieder einer OSZE-Militärmission gefangen – am Samstag durften seine "Gäste", die er wie Trophäen vorführte, gehen. Jetzt hat er anderes zu tun: Der Mann, der am liebsten Baseballkapperl und Kapuzenpulli trägt und stets von Bodyguards umringt ist, organisiert die Verteidigung der Provinzstadt Slowjansk gegen die vorrückenden ukrainische Regierungseinheiten.

Wer ist der Mann mit den eisblauen Augen und blitzenden Goldzähnen? Woher kommen die 2500 Milizionäre, die ihm treu ergeben sind? Fragen, auf die der sonst gesprächige Ponomarjow wortkarg reagiert. Nur eines betont er: Er sei nicht von Kreml-Chef Putin geschickt worden, wenngleich er zugibt, dass ihn viele Russen, "meine Freunde", unterstützten. Beobachter hegen keinerlei Zweifel, dass der Milizenführer Know-how und Geld aus Russland erhält.

In einem vor ein paar Tagen gelöschten Wikipedia-Eintrag über Ponomarjow war zu lesen, dass er in Russland geboren sei und im Afghanistan-Krieg für die Rote Armee gekämpft habe. Danach sei er als Militärexperte in anderen GUS-Ländern im Einsatz gewesen.

KURIER: Was können die 30 Außenminister, die am Dienstag bei der Europarats-Konferenz in Wien teilnehmen, maximal erreichen, um die Ukraine zu stabilisieren?

Außenminister Sebastian Kurz: Man darf sich von der Konferenz keine Wunder erwarten. Wichtig ist es aber, bei einer so angespannten Situation, wie sie derzeit in der Ukraine herrscht, im Gespräch zu bleiben und Gesprächskanäle zu bieten. Österreich ist immer wieder ein guter Boden für Dialog gewesen. Aber gleichzeitig muss man sich bewusst sein, dass es für diese derartig angespannte Lage keine einfache und schnelle Lösung gibt.

Ist angesichts der jüngsten Gewalteskalation zu befürchten, dass die Ukraine endgültig in Richtung Abgrund taumelt?

In den vergangenen Wochen hat sich die Situation noch einmal verschlechtert. Besonders im Osten der Ukraine hat sich eine dramatische Verschärfung der Situation ergeben. Zahlreiche Städte sind von Separatisten besetzt worden und es ist immer öfter zu einer Eskalation zwischen diesen Separatisten, Polizei und Militär gekommen. Aber als kleine, wichtige positive Entwicklung ist zu werten, dass die OSZE-Beobachter freigelassen worden sind. Wir haben alle kein Interesse an verhärteten Fronten und wir sollten alle kein Interesse haben an einer Neuauflage des Kalten Krieges.

Was kann man Russlands Präsidenten Putin entgegensetzen? Bisherige Strafmaßnahmen sind ja eher in der Luft verpufft.

Mag sein, dass die bisherigen Maßnahmen der EU noch zu keinem Einlenken auf russischer Seite geführt haben. Aber der Drei-Stufenplan der EU – Abbruch des Visa-Dialogs, Einreiseverbote und Kontensperren und dritte Stufe wären die noch nicht verhängten Wirtschaftssanktionen – war der richtige Weg. Denn wenn man keinen Krieg haben möchte, darf man nicht militärisch, sondern muss mit politischen Maßnahmen antworten. Und Sanktionen sind eine politische Antwort.

In Donezk und in Lugansk wollen die Separatisten am 11. Mai eine Volksabstimmung über ihre Unabhängigkeit von Kiew abhalten. Würde Österreich dies anerkennen?

Selbstverständlich nicht. Das ist ein absolut falscher Weg, dass separatistische Kämpfer, die mit Waffengewalt Gebäude besetzt haben, Volksabstimmungen abhalten wollen. Man kann nur hoffen, dass diese Personen zur Vernunft kommen.

Wie kann die Präsidentenwahl am 25. Mai unter solch schwierigen Bedingungen gültig sein?

Ich hoffe, dass sich die Rahmenbedingungen für die Wahlen noch verbessern und so gut wie möglich sein werden. Es braucht diese Wahlen. Nur durch die Wahlen kann es einen legitimierten Präsidenten und legitimierte politische Kräfte in der Ukraine geben. Diese Wahlen würden unter ordentlichen Rahmenbedingungen ganz klar zur Stabiliserung der Ukraine beitragen.

Wie kann man den Menschen Osten der Ukraine klarmachen, dass die Wahlen auch für sie gelten?

Man darf nicht glauben, dass der gesamte Osten der Ukraine gegen diese Wahl ist. Im Gegenteil. Wir haben eine stille Mehrheit im Osten, die nicht zu Waffen greift und jede Waffengewalt klar ablehnt und die selbstverständlich an den Wahlen teilnehmen möchte. Man darf nicht die bewaffneten, selbst ernannten Führer im Osten der Ukraine mit der gesamten Bevölkerung dort gleichsetzen.

Weitet sich die Krise nun auch auf den Süden der Ukraine aus?

Leider gibt es Demonstranten und bewaffnete Kräfte, die dafür bezahlt werden, dass sie Unruhe stiften und die Ukraine destabilisieren. Derzeit ist es leider Gottes wie ein Flächenbrand im Osten der Ukraine.

Könnte eine europäische Energie-Union, wie sie Polen vorschlägt, die Antwort der EU auf die russische Gas-Allmacht sein?

Im Augenblick ist das nur ein Schlagwort. Klar ist, dass wir in Europa aus dieser Krise lernen sollten. Und eine der Lehren wäre, dass wir energieunabhängiger werden müssen.

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