Wer die Wallonen eigentlich sind

Wallonische Demonstranten.
Das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen sollte in einigen Tagen unterzeichnet werden. Das belgische Wallonien jedoch könnte die Zustimmung der EU verhindern.

Die Regierung vom belgischen Wallonien lehnt das Ceta-Abkommen aktuell weiterhin ab. Ministerpräsident Paul Magnette bezeichnete die von der EU-Kommission vorgelegten Zusatzdokumente als „immer noch unzureichend“. Dabei hätten diese Zusatzdokumente die Bedenken der Wallonen ausräumen sollen. Der Unterzeichnung des Vertrages wäre nichts mehr im Weg gestanden. Doch es sollte anders kommen.

Ein gespaltenes Land

Belgien besteht aus den drei Regionen Flandern, Brüssel - und eben aus Wallonien. Ohne deren Einverständnis muss Belgien die Zustimmung zum Freihandelsabkommen verweigern. Und da das Abkommen von allen 28 EU-Staaten unterzeichnet werden muss, könnte dies tatsächlich ein Problem für die Befürworter werden. Wallonien hat rund 3,4 Millionen Einwohner, entspricht also weniger als einem Prozent der 507 Millionen EU-Bürger.

Das kleine Land ist heute bekannt für Pommes, das Atomium und das Männeken Pis; Brüssel ist Sitz der NATO und das politische Herz der EU. Bevölkert ist Belgien hauptsächlich (es gibt noch einen kleinen Anteil deutschsprachiger Belgier im Grenzgebiet zu Deutschland) von Flamen und Wallonen, die immer wieder Konflikte miteinander hatten und haben. Flamen sind niederländisch sprechende Bewohner der belgischen Region Flandern. Von ihnen gibt es heute knapp sechs Millionen, das sind etwa 60 Prozent der belgischen Bevölkerung. Die andere Gruppe sind eben die Wallonen - die französischsprachigen Bewohner der Region Wallonien.

Die damals eher verarmten Flamen wurden - seit Belgien 1830 als französischsprachiger Staat gegründet worden war - von den Frankophonen von oben herab behandelt. Französisch galt als die edle Sprache des Adels. Das Herrschen oblag den Wallonen, die sich auch immer den benachbarten Franzosen enger verbunden fühlten als den inländischen Flamen. Das ging sogar soweit, dass die flämischen Bauernjungen, die bis zu 90 Prozent der Soldaten und Offiziere stellten, in der Armee ausschließlich auf Französisch kommandiert wurden. Vor Gericht konnten sich Angeklagte oft nicht verteidigen, weil die Verhandlung in der fremden Sprache Französisch geführt wurde.

Die Wut der Flamen wurde immer größer - Wallonien dank Stahl und Kohle immer reicher. Zeitgleich hatten die Bauern im flämischen Norden des Landes oft nicht genügend Geld, um ihre Familie zu ernähren. Doch das sollte sich ändern.

Aus arm mach reich

Nach dem zweiten Weltkrieg ging es abwärts mit Kohle und Stahl. Die reichen Wallonen wurden zu Bittstellern. Vor dem Krieg wurden in Wallonien 40 Prozent des belgischen Bruttosozialprodukts erwirtschaftet, danach nur noch 27 Prozent.

Internationale Unternehmen ließen sich lieber im bäuerlichen Flandern mit seinen zuverlässigen Arbeitern nieder als in Wallonien. Während man dort also in den 70ern 38 Prozent der Arbeitsplätze verlor, boomte die Wirtschaft Flanderns. Plötzlich waren also die anderen die Reichen.

Die Flamen verreisten plötzlich mehr, hatten weniger Arbeitslose und brachten mehr Kinder zur Welt. Sie revanchierten sich freilich bei den Wallonen und warfen beispielsweise sämtliche frankophonen Professoren und Studenten aus der Universität Löwen (französisch Louvain). Statt die zweite Landessprache Französisch zu lernen, wählten die Kinder der Flamen in der Schule Englisch. Das verhält sich bis heute meist noch so.

1978: Vertrag über das Zusammenleben

Um eine mögliche Spaltung des Landes zu verhindern, entwickelte man die Idee der Regionalisierung. 1970 wurde die Verfassung neu geschrieben. Darin wurden die drei Regionen Wallonien, Flandern und Brüssel gegründet. Weil Brüssel als Hauptstadt von Menschen aus beiden Regionen bewohnt wird, erhielt es einen eigenen Status. Der Egmont-Pakt von 1977 führte zur Schaffung dieser Regionen. 1978 wurden im Stuyvenberg-Abkommen die konkreten Details zum Zusammenleben festgelegt.

Der Spiegel schrieb im Jahr 1987:

"Sie regieren zwei Völker", schrieb der sozialistische Politiker Jules Destree 1912 in einem berühmten Brief an König Albert: "Es gibt in Belgien Wallonen und Flamen; es gibt keine Belgier." An der Analyse hat sich bis heute nichts geändert. Die Sprach- und Kulturgrenze zwischen dem niederländisch sprechenden Flandern mit seinen 5,7 Millionen Einwohnern und dem frankophonen Wallonien mit 3,2 Millionen Einwohnern teilt Belgien noch immer in zwei unversöhnliche Lager, trennt Parteien und Familien und führt, mitten in diesem hochentwickelten Land, zu einem Konflikt…“

Entwicklung seit 2007

Die Parteien in den beiden Regionen sprechen meist immer noch nur ihre jeweils eigene Bevölkerung an. Es gibt zwar eine Zusammenarbeit mit der „ideologischen Schwesterpartei“ aus der anderen Landeshälfte, aber in den letzten Jahrzehnten sind die politischen Meinungsunterschiede wieder größer geworden. Es hat sich wenig daran geändert, dass auch heute noch die meisten politischen Debatten bereits kurz nach ihrem Entstehen einen sprachpolitischen Aspekt erhalten. Die Belgier leben zwar in einem gemeinsamen Staat, aber es werden – anders als früher – nur die Medien der jeweils eigenen Landeshälfte in der jeweiligen Sprache genutzt. So werden viele öffentliche Debatten nur in einer Landeshälfte geführt. Auch Ortstafel-Streitereien begleiten das Land seit Jahren. Bei den Parlamentswahlen 2014 wurde die N-VA stärkste Partei in Flandern. Das Handelsblatt schrieb damals:

„Für Bart de Wever, den Chef der national-separatistischen Neuen Flämischen Allianz (NV-A), ist es eine einfache Rechnung: Ohne die Wallonen sind die Flamen besser dran. Seit Jahren fließe ein Teil des flämischen Wohlstands in den französischsprachigen Landesteil Belgiens. Allein die sechste Staatsreform vom vergangenen Jahr habe für einen neuen „traurigen Höhepunkt“ der Umverteilung gesorgt. „Die Rechnung beläuft sich auf 4,6 Milliarden Euro oder jährlich über 1500 Euro für jede flämische Familie“, rechnete die NVA in einem Strategiepapier anlässlich ihres Parteikongresses im Februar vor. Die Konsequenz? Ist klar: Selbstbestimmung. Artikel 1 des Parteistatuts fordert die Republik Flandern.“

Es ist nun eher die flämische Seite Belgiens, die Forderungen nach einem Umbau zu einem föderalistischen Staat oder gar einer völligen Abschaffung des belgischen Staates fordert.

Heute aber, da könnten das kleine Wallonien eventuell Auslöser für einen Dominoeffekt in Sachen CETA und EU sein, wenn keine Einigung gefunden wird.

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