Brexit-Strategie der Briten: Einen Keil in die EU treiben

Die Zeit der britischen EU-Mitgliedschaft läuft ab.
Heute reicht die britische Regierung ihren Antrag auf EU-Austritt in Brüssel ein. Der KURIER analysiert zum Auftakt des Tauziehens die Taktik beider Seiten.

Neun Monate nach dem Brexit-Referendum reicht Großbritannien am Mittwoch die Scheidungspapiere in Brüssel ein. Damit ist der Weg für die zweijährigen Verhandlungen mit der Europäischen Union frei. Theresa May hat die EU-Austrittserklärung bereits am Dienstagabend unterzeichnet.

Der KURIER traf in London und Wien die Mitglieder des britischen Verhandlungsteams, bekam einen Einblick in deren von langer Hand vorbereitete Strategie für das Tauziehen um Geld, zukünftige Beziehungen und das Schicksal der drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien, darunter 25.000 Österreicher. Die Analyse der Taktik und alles, was Sie zum Thema wissen müssen, finden Sie hier in unserem Brexit-Dossier.

Der Feind heißt EU-Kommission:

Brüssel, damit rechnet man in London fix, sei entschlossen, den Brexit möglichst schmerzhaft und teuer zu machen. Die EU-Institutionen hätten kein Interesse an weiteren engen Beziehungen zu Großbritannien. Sie wollen lediglich, das Großbritannien alle offenen Rechnungen begleicht. Die derzeit inoffiziell eingeforderte Summe: 60 Milliarden Euro. Für London völlig inakzeptabel.

Suche nach Verbündeten:

Die einzelnen EU-Mitglieder dagegen haben sehr wohl Interesse, an weiteren engen Beziehungen mit Großbritannien, wirtschaftlich, aber etwa auch militärisch. Auch österreichische Firmen wollen ihre Investments auf der Insel und natürlich auch den Zugang zum europäischen Markt für ihre Produkte sichern. London versucht schon jetzt, jene EU-Staaten direkt anzusprechen, von denen man sich Unterstützung bei den Verhandlungen erwartet. Dabei setzt man vor allem auf Deutschland, aber auch Österreich, oder die Niederlande. Die EU, so versichert man auch in Wien, werde sich nicht auseinanderdividieren lassen, doch die Interessen klaffen oft stark auseinander.

Trennung nur mit Neustart:

Die EU-Spitze will zuerst einmal den Austritt der Briten abwickeln. Erst wenn der in allen Details festgelegt, alle weiter bestehenden Verpflichtungen und Zahlungen garantiert sind, wenn also die Scheidung perfekt ist, will man über die Beziehungen danach reden. London dagegen will gleichzeitig über Trennung und Neustart verhandeln. Man befürchtet, dass internationale Investoren durch den vertragslosen Zustand verunsichert werden könnten. Außerdem will man die zukünftigen Verpflichtungen nur dann eingehen, wenn auch schon festgelegt ist, wie eng die Beziehungen – vor allem die wirtschaftlichen – zur EU sind.

Zahlen ja, alte Rechnungen nein:

In den ersten Gesprächen mit EU-Vertretern, auch etwa gegenüber Österreichs Außenminister Kurz, hat die Regierung in London offiziell erklärt, dass man nicht daran denke, größere Summen nach dem Austritt an Brüssel zu bezahlen. Solche Pläne, so meinte etwa Außenminister Boris Johnson bestenfalls "als Scherz" zu betrachten. Doch das ist Verhandlungstaktik. Hinter den Kulissen machen die Verhandler deutlich, dass man sehr wohl bereit sei, Zahlungen an die EU auch nach dem Austritt zu leisten. Die Regierung in London steht unter großem Druck, vor allem der Medien, nachdem man vor der Brexit-Volksabstimmung versprochen hat, die Zahlungen an Brüssel einzustellen.

Also dürfen Gelder, die in die EU-Kasse fließen offiziell nur für zukunftsorientierte Projekte verwendet werden, also etwa Zusammenarbeit bei wissenschaftlichen oder technischen Projekten. Im britischen Budget sind die erwarteten Zahlungen bereits einkalkuliert.

Kein Poker um EU-Bürger:

Könnten die 3 Millionen EU-Bürger in Großbritannien Faustpfand für die Verhandlungen werden? Könnte London also versuchen, ihre Aufenthaltsberechtigungen auf der Insel nur im Austausch für freien Zugang zum EU-Markt zu garantieren? Offiziell will man diesen Trumpf nicht vorschnell aus der Hand geben, doch die Verhandler machen deutlich, dass man sich auf dieses Spiel nicht einlassen will. Man will eben auch die rund eine Million Briten, die derzeit in der EU leben, schützen. Die inoffizielle Linie, EU-Bürger, die bereits in Großbritannien leben, können problemlos bleiben.

(Konrad Kramar)

Die Wähler haben nicht immer unbedingt recht, aber in der Demokratie muss man ihnen recht geben. Also machen die Briten den Brexit. Und hinterlassen einige Lehren:

Vorsicht vor Parteipolitikern in der Verkleidung des Staatsmanns. Der gescheiterte Premier David Cameron hat mit dem Brexit gespielt, weil er glaubte, so seine Partei einigen zu können. Und ist doppelt gescheitert. Die neue Regierungschefin Theresa May wiederum war vor der Abstimmung als "U-Boot" bekannt. Umso mehr wird sie den Druck für ein gutes Verhandlungsergebnis spüren.

Die Wähler wissen inzwischen, dass sie belogen wurden. 350 Millionen Pfund pro Woche sparen sie nicht, wie das der wirre Boris Johnson versprach, der zunächst gegen den Brexit war und dann die EU mit Hitler verglich. Wer alles verspricht, hält am Ende nichts.

Die EU muss hart verhandeln, aber die Briten bleiben europäische Freunde – wir brauchen ihre liberale Tradition. Schlimm genug, dass Frau Le Pen, die AfD und manche in der FPÖ das Heil in einem autoritären Russland suchen. Die EU bleibt das demokratische und wirtschaftliche Zentrum Europas. Auch die Schweizer profitieren, ohne mitzubestimmen.

Was alles auseinander dividiert werden muss:

Auf den Chef-Verhandler seitens der EU-Kommission, Michel Barnier, und das britische Team des "Brexit-Ministeriums" wartet eine Monsteraufgabe. Bei jener Gruppe, die dem Europäischen Rat bei den Brexit-Verhandlungen hilft, sind auch zwei Österreicher beteiligt. An die 7000 Sachbereiche gilt es zu klären – jeder davon ist heikel. Etwa die Frage des britischen Austritts aus der Europäischen Agentur für Flugsicherheit. Scheiden die Briten Ende März 2019 ohne ein Abkommen aus der EU aus, könnten britische Fluglinien praktisch über Nacht die Erlaubnis verlieren, über europäischen Luftraum zu fliegen. Die Frage lautet also: Eine eigene, britische Agentur schaffen – zu enormen Kosten? Oder doch Mitglied dieser Agentur bleiben? 37 zentrale Agenturen hat die EU derzeit, einige sind in Großbritannien angesiedelt und müssen umziehen.

Soft brexit oder hard brexit:

Nach dem ersten Schock über den britischen Austritt hat sich in Brüssel die rationale Position durchgesetzt: Großbritannien wird immer ein Nachbar bleiben, die Verhandlungen sollen deshalb fair und vernünftig verlaufen. "Eines muss aber auch klar sein", wiederholte gestern Manfred Weber, Chef der Konservativen im Europaparlament, "nach dem Austritt darf Großbritannien nicht besser da stehen als noch als EU-Mitglied." Da scheiden sich bereits die Geister: Kann sich London mit seinen Forderungen nicht durchsetzen, will man auch einen "hard brexit" riskieren – also Austritt aus dem Binnenmarkt und der Zollunion. Ein "soft brexit" würde aus Perspektive Londons die Option ermöglichen, im Binnenmarkt bzw. der Zollunion zu bleiben, während man sich vor allem von dem Prinzip der Personenfreizügigkeit in der EU verabschiedet. Für die EU ist das allerdings ein No-go.

Trennung und neue Freundschaft?

Erst die Scheidung, dann die künftigen Beziehungen mit eventuellen Handelsabkommen, lauten die Forderungen vieler Akteure in Brüssel. Doch feste Regeln dafür gibt es nicht: "Kann parallel verhandelt werden – die Scheidung und die zukünftige Regelung? Rechtlich ist überhaupt nicht klar, wann was verhandelt werden darf", sagt die Grüne Europaabgeordnete Monika Vana zum KURIER. Vorrang ig aber sei, "möglichst rasch Klarheit zu erlangen, was die EU-Bürger in Großbritannien und die Briten in der EU zu erwarten haben."

Der zu erwartende Streit ums Geld:

Die "60-Milliarden-Euro-Rechnung" für den Brexit hat die Financial Times als unterste Grenze auf Basis von Kommissionsdaten errechnet. Aber nicht nur London steht eine saftige Rechnung ins Haus, sondern auch den EU-Mitgliedern, in erster Linie den Nettozahlern. Demnach wird für Österreich eine Summe von knapp 460 Millionen Euro ausgewiesen, die es 2019 an Brüssel überweisen muss. In den Folgejahren könnten die jährlichen Beiträge noch höher werden, weil Österreich vor Jahren einen Rabatt für seine Nettozahlungen ausgehandelt hatte. Mit Ausfall des EU-Nettozahlers Großbritanniens stehen dem EU-Budget jedenfalls kräftige Einschnitte bevor. Das könnte sich besonders auf die Regionalförderung auswirken.

(Ingrid Steiner-Gashi; Mitarbeit: Margaretha Kopeinig)

Das skandinavische Land ist durch das sogenannte EWR-Abkommen eng an die EU angebunden. Vorteil für Norwegen ist der freie Zugang zum Binnenmarkt der EU. Um von diesem Privileg profitieren zu können, muss das Land allerdings auch die EU-Regeln zur Bewegungsfreiheit für Arbeitnehmer und den freier Dienstleistungsverkehr respektieren. Zudem muss Norwegen derzeit die 15 am wenigsten wohlhabenden Länder der EU mit EWR-Fördergeldern in Höhe von jährlich 388 Millionen Euro unterstützen. Weiterer Minuspunkt des Modells: Trotz des EWR-Abkommens besitzt Norwegen innerhalb der EU in den entscheidenden Organen kein Stimmrecht. Das Land muss hat also auf für sie geltendes EU-Recht kaum Einfluss.

Die engen Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz werden durch ein dichtes Netz von rund 120 Abkommen geregelt. Das Alpenland hat zum Beispiel einen direkten Zugang zu etlichen wichtigen Sektoren des EU-Binnenmarktes. Wie Norwegen muss sich allerdings auch die Schweiz dafür an zahlreiche EU-Regeln halten und auch finanzielle Beiträge leisten. Zum Beispiel zahlt sie für ihre Einbindung in den Europäischen Forschungsraum und für Projekte zur "Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der erweiterten EU". Das Modell "Schweiz" könnte für Großbritannien interessant sein, vor allem wenn es zusätzlich den Zugang zum Sektor Finanzdienstleistungen ermöglichen würde. In EU-Kreisen gilt es allerdings als äußert unwahrscheinlich, dass die EU noch einmal einem Land ein ähnliches Modell zugesteht. Es gilt als zu komplex.

Das Freihandelsabkommen, das die EU mit Kanada ausgehandelt hat, ist umfassender als alle vorher geschlossen Verträge dieser Art. Es umfasst allerdings nicht den für Großbritannien so wichtigen Bereich der Dienstleistungen.

Wenn sich die beiden Parteien auf kein anderes Modell einigen können, würde der Handel künftig nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) ablaufen. Der Zugang Großbritanniens zum EU-Binnenmarkt wäre so beschränkt wie zum Beispiel der eines Landes wie Neuseeland. Vor allem für die britische Finanzbranche wäre dieses Modell vermutlich katastrophal.

Was, wenn die zwei Jahre ergebnislos verstreichen?

Während dieser Frist würde sich zunächst nichts ändern, die Briten blieben ein vollwertiges EU-Mitglied. Schafft man es jedoch nicht, sich zu einigen (oder zumindest die Frist zu verlängern), würde der Extremfall eintreten: Großbritannien fiele gegenüber der EU auf den Status eines x-beliebigen Drittlandes, es würden nur die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) gelten. Den Briten ginge es ähnlich wie den USA – ohne Handelsabkommen TTIP. Einigen EU-Gegnern wäre das nur recht.

Wie würden die Verhandlungen ablaufen?

Die Briten wickeln ungefähr die Hälfte ihres Handels mit der EU ab. Somit ist klar, dass beide Seiten großes Interesse an einer Einigung hätten, sagt Klimscha. Allerdings müssten die EU-Staaten mit qualifizierter Mehrheit zustimmen. Da könnte es Länder geben, die sich strikt gegen Sonderrechte aussprechen, wendet Stephan Denk, Freshfields-Experte für öffentliches Wirtschaftsrecht, ein: "Allein aus disziplinierenden Gründen: Die EU will schließlich keine attraktive Austrittsoption schaffen."

Gibt es Vorbilder für die neue Rolle der Briten?

Die EU werde kein zweites Schweizer Modell wollen, sagt Denk: Dort sorgt eine Vielzahl bilateraler Verträge für ein schwer zu durchdringendes Regelungsgeflecht. Wahrscheinlicher sei das norwegische Modell: Die Briten hätten weitgehend unveränderten Zugang zum EU-Binnenmarkt. Sie könnten aber weniger mitbestimmen und müssten weiterhin große Teile des EU-Rechts mittragen. Beiträge zum EU-Budget würden ebenfalls fällig, wenn auch in kleinerem Maßstab.

Wäre London als größter Finanzplatz bedroht?

Schlimmstenfalls könnte eine Bank, die ihre Lizenz im Vereinigten Königreich hat und europaweit aktiv ist, nach dem Wegfall von Kapitalverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit nicht mehr in der EU tätig sein. "Da müsste man Lösungen finden", sagt Klimscha. Aus London werde aber sehr viel internationales Geschäft gemacht, das über die EU hinausreicht. Ein "Brexit" hätte wohl Einfluss, die Investitionen würden leiden. Die Dimension sei aber schwer abzuschätzen.

Welche Fragen könnte ein "Brexit" noch aufwerfen?

Die Unsicherheit wäre riesengroß. "Es gibt viele offene Punkte", betont Florian Klimscha. Das betreffe Fragen wie: Was ist die Folge für hochregulierte Industrien wie Telekom oder Energie? Oder im Alltag: Wie sieht es künftig mit Online-Bestellungen aus UK aus? Wer in der Schweiz bei Amazon bestellt, kennt das: er muss die Zollbestimmungen berücksichtigen. Was wären die Auswirkungen im Dienstleistungssektor, etwa für die vielen Handwerker aus Polen, die in Großbritannien tätig sind? Was aus öffentlichen Aufträgen würde, wäre ebenfalls unklar: "Könnte es da zu einer Marktabschottung kommen, dürften also UK- oder EU-Unternehmen aus Vergabeverfahren ausgeschlossen werden?", fragt sich Stephan Denk. Wäre das Vereinigte Königreich aus EU-Sicht noch ein sicherer Datenaufbewahrungsort? Wie stünde es um die Durchsetzung von Gerichtsurteilen? Wie um EU-Patente? Fragen über Fragen.

Wie können sich Unternehmen darauf vorbereiten?

Viele Firmen haben eigene "Brexit Groups", um Risiken abzuwägen. Gleich am 24. Juni dürfte nicht viel passieren. Die Währungskurse könnten schwanken, eine akute Bedrohung gebe es aber in den seltensten Fällen. Und um den Plan B zu entwerfen, sei es zu früh. Klimscha: "Dazu müsste zumindest klar sein, über welches Vertragsmodell eigentlich verhandelt wird."

29. März 2017

Großbritannien reicht das Austrittsgesuch nach Artikel 50 ein. An diesem Tag beginnt die Uhr zu ticken. Gibt es am 29. März 2019 kein Brexit-Abkommen, scheidet das Vereinigte Königreich automatisch aus der EU aus.
29. April 2017

Bei einem Sondergipfel vereinbaren die Staats- und Regierungschefs die Leitlinien für die Brexit-Verhandlungen, die von der EU-Kommission geführt werden. Chefverhandler ist der Franzose Michel Barnier.
Mai/Juni 2017

Start der Verhandlungen. Ende 2017 soll die erste Verhandlungsrunde abgeschlossen sein mit den schwierigen Fragen „Finanzen“ und „Rechte der EU-Bürger in Großbritannien“ (rund drei Millionen) sowie britischer Staatsbürger, die in der EU leben (ca. eine Million).
Oktober 2018

Unter Österreichs EU-Vorsitz sollen alle Details über den Austritt verhandelt sein. Maximal eineinhalb Jahre hat Barnier als Verhandlungszeitraum eingeplant.
29. März 2019

Die EU-Mitgliedschaft der Briten endet an diesem Tag, 46 Jahre und drei Monate nach Beitritt.

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