Brexit: "Der Himmel wird uns nicht auf den Kopf fallen"

Zu viele Ausländer, wie hier Polen, seien im Land, so die Brexit-Befürworter
In der Hochburg der Europa-Gegner gibt man sich weiterhin stur und entschlossen.

Politik zum kleinen Vormittagsbier? Davon wollen die vier Herren hier im Vorgarten mit Meerblick nichts wissen. Da lässt man auf die Fragen des Reporters aus Österreich bestenfalls in aller Kürze seinen Ärger über ahnungslose Politiker ab. Wählen werde man trotzdem kommende Woche, aber wen, will keiner sagen. Allein aus der Verteilung von Missgunst und Schimpfworten kann man erahnen, dass es wohl wieder die regierenden Konservativen sein werden.

Die haben schon bei den Wahlen 2015 den Sieg davongetragen, in Skegness, dem einst noblen Seebad an Englands Ostküste, wo sich heute nur noch Wettbüros und "Alles für ein Pfund"-Shops zwischen den blinden Auslagen mit "Zu vermieten"-Schildern angesiedelt haben.

Arbeiter im Container

Nur ein Geschäft blüht hier, die Wohnwagen- und Containervermietung. Doch in den dicht an dicht gereihten weißen Schachteln sind nicht nur Sommerfrischler wie die vier Pensionisten untergebracht, sondern auch ganz andere Dauergäste: Ernte- und Hilfsarbeiter aus Polen, Litauen und Rumänien.

Hunderttausende sind seit den Neunzigerjahren hierher ins Zentrum des englischen Gemüseanbaus gekommen. Auf den Feldern rund um die Kleinstadt Boston, ein paar Meilen von Skegness entfernt, stehen sie jetzt im Juni zu Dutzenden auf den Feldern, ernten Brokkoli im Akkord. Durchschnittlich zwölf Stunden pro Tag um umgerechnet acht Euro die Stunde arbeiten sich hier die jungen Leute wortwörtlich den Rücken krumm, schlafen in ihren Wohncontainern und sprechen oft kaum ein Wort Englisch.

Elf Prozent der Bevölkerung sind hier Gastarbeiter aus Osteuropa – und 75 Prozent der örtlichen Briten haben genau deshalb im Vorjahr für den Brexit, den Austritt aus der EU gestimmt, so viele wie nirgendwo anders in Großbritannien. "Es sind nicht die Menschen, gegen die sich der Ärger der Einheimischen hier richtet, es ist die Menge", erklärt Matt Warman, der lokale Parlamentsabgeordnete der regierenden Konservativen, dem KURIER: "Das war der Hauptgrund, warum sich hier so viele für den Brexit entschieden haben."

"Brexit-Schlacht"

Warman selbst, im Hauptberuf Sozialarbeiter, war im Vorjahr noch gegen den Brexit. Doch jetzt, wo seine Parteichefin und Premierministerin Theresa May sich als einzig mögliche Feldherrin für die "Brexit-Schlacht" präsentiert und so die Parlamentswahlen am kommenden Donnerstag gewinnen möchte, gibt er sich mit knochentrockener englischer Ironie pragmatisch: "Jetzt, wo die Entscheidung gefallen ist, muss man das Ganze einfach angehen, in die Zukunft schauen. Uns wird der Himmel schon nicht auf den Kopf fallen."

Doch die "Brexit-Schlacht" der Premierministerin sieht im Alltag von Boston ein bisschen anders aus als in der Londoner Downing Street. Die Lebensader der Region ist die Landwirtschaft, und die funktioniert nun einmal nicht ohne die Gastarbeiter. Mehr als das, auch eine Stadt wie Boston funktioniert nicht mehr ohne sie. Umgeben von polnisch-litauisch-rumänischem Sprachgewirr schlendert man durch die Gassen, kommt vom polnischen Fleischhauer über das Gasthaus mit dem polnischen Menü zur Arbeitsvermittlungsagentur, wo drei Polinnen ihren Landsleuten eine der ständig verfügbaren Stellen vermitteln.

Auf dem Weg kommt man aber auch mit drei akzentfrei Englisch sprechenden polnischen Gymnasiastinnen ins Plaudern: Über ihre Zukunftspläne zwischen Computerbranche und Dolmetscherausbildung. So gut funktioniert Integration auch in Boston für die meisten Zuwanderer.

Wer bleibt, wer geht?

Trotzdem machen sich viele von ihnen Sorgen darüber, wie es nach dem Brexit mit ihnen weitergeht. Dürfen sie bleiben? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Welche bürokratischen Hürden wird ihnen das ohnehin bescheidene britische Sozialsystem in den Weg stellen? Vor allem Frauen, die mit dem Kinderwagen unterwegs sind, gehen solche Gedanken durch den Kopf: Wie viel kann man neben den Kindern verdienen? Reicht das zum Leben? Und vor allem: Reicht das, um eine Aufenthaltsgenehmigung im nicht mehr EU-Mitglied Großbritannien zu bekommen?

Die Männer dagegen, die am frühen Abend beim litauischen Dosenbier am Flussufer sitzen, sehen das alles gelassen. Sie sind ohnehin nur für ein paar Monate hier, und dafür – so erklärt der Einzige in der Gruppe, der ein paar Brocken Englisch kann – reicht vorerst ein EU-Pass und ein Stück Papier: "Arbeitsvertrag, kein Problem."

Dass das alles mit "kein Problem" auf Dauer nicht zu regeln ist, weiß Matt Warman nur zu genau. Er muss sich nicht nur den Zorn älterer Mitbürger über morgens betrunkene Rumänen auf dem Marktplatz anhören, sondern auch die Sorgen der örtlichen Bauern, die ihn daran erinnern, dass sie für ihre Gemüseernte wohl keine Engländer finden werden.

Eine Regelung für Erntehelfer aus Osteuropa werde wohl nach dem Brexit rasch gefunden werden, gibt sich der Konservative optimistisch: "Schwieriger wird das mit Krankenschwestern und Pflegerinnen. Das sind Menschen, denen ich eine dauerhafte Perspektive bieten muss."

Zu viele Ausländer

Den Herren beim Vormittagsbier fehlt der Sinn für solche Politikersorgen. Man brauche sich doch nur umschauen, um zu wissen, dass das einfach zu viele Ausländer seien. Darum hat man sich für den Brexit entschieden, und jetzt sollen die in London schauen, wie sie das hinkriegen. Dass die Premierministerin für sie in eine "Brexit-Schlacht" ziehen will, gefällt. Schließlich müsste man denen auf dem Kontinent einmal klar machen, dass Großbritannien genug Geld nach Brüssel geschickt habe: "Jetzt werden eben die Deutschen und die Franzosen noch was drauflegen müssen", ist man sich einig, "dann wird es denen auch bald reichen, mit der EU."

Kommentare