Bremse für den Brexit? Was das britische Urteil bedeutet

Demonstrant am Dienstag mit einer EU-Torte
Regierung ist das Heft des Handelns zumindest teilweise aus der Hand genommen.

Schon vor Monaten hat sich die britische Premierministerin Theresa May festgelegt: Bis Ende März will sie bei der Europäischen Union offiziell den Austritt des Königreichs beantragen. Binnen zwei Jahren soll dann der Brexit unter Dach und Fach sein. Doch nun nimmt ein Grundsatzurteil des obersten britischen Gerichts der Regierung das Heft des Handelns aus der Hand - zumindest zum Teil.

Worum ging es bei dem Gerichtsverfahren?

Die zentrale Rechtsfrage bei dem Verfahren vor dem Supreme Court machte die Regierung schon vor dem Urteil vom Dienstag unruhig: Darf sie den Austritt aus der Europäischen Union auf Grundlage des Brexit-Referendums alleine beantragen? Oder hat das britische Parlament ein Mitspracherecht, bevor das offizielle Gesuch nach Brüssel geschickt wird? Die Aktivistin Gina Miller (mehr über Miller lesen Sie im unteren Abschnitt) hatte für eine Parlamentsbeteiligung gestritten und in erster Instanz bereits Recht bekommen. Darüber hinaus wollten auch die Regierungen von Schottland, Wales und Nordirland mitentscheiden.

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Gina Miller (C) speaks outside the Supreme Court following the decision of a court ruling that Theresa May's government requires parliamentary approval to start the process of leaving the European Union, in Parliament Square, central London, Britain, January 24, 2017. REUTERS/Jonathan Brady/Pool

Wie ging es aus?

Der Supreme Court folgte mit acht zu drei Stimmen Millers Argumenten. Tenor des Urteils: Der Brexit ändert die Rechtslage in Großbritannien und führt sogar zu "grundlegenden Veränderungen der verfassungsrechtlichen Regelungen". Rechte von Briten würden beeinträchtigt oder abgeschafft. Darüber könne die Regierung nicht "ohne vorangehende Autorisierung durch das Parlament" befinden. Kurzum: Das Parlament in London muss vor dem offiziellen Austrittsgesuch gefragt werden und darf mitentscheiden. Die Regionalvertretungen von Wales, Schottland und Nordirland haben hingegen kein Mitspracherecht.

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A man waves a European Union (EU) flag as he waits to enter the Supreme Court, opposite the Houses of Parliament, in central London on January 24, 2017. The British government's Brexit plan will be put to the test on Tuesday with a landmark court ruling on whether it has the right to kick-start the country's EU departure without parliamentary approval. The 11 Supreme Court judges are expected to rule against the government in a move which could delay Prime Minister Theresa May triggering Article 50 of the EU's Lisbon Treaty, which would formally begin exit negotiations. / AFP PHOTO / Daniel LEAL-OLIVAS

Welchen Einfluss hat dieser Sieg der britischen Brexit-Gegner?

Von vornherein stand fest: An dem geplanten Ausstieg aus der EU ist nicht mehr zu rütteln. May wiederholt ohnehin stets ihr Mantra: "Brexit heißt Brexit." Aber auch der Opposition ist klar, dass sie den im Juni von einer knappen Mehrheit geäußerten Austrittswunsch nicht ignorieren kann. "Labour respektiert den Ausgang des Referendums", bekräftigte Oppositionsführer Jeremy Corbyn denn auch nach dem Urteil. Die Hoffnung einiger Brexit-Gegner ist nun, dass das Parlament die Regierungslinie eines "harten Brexit" etwas aufweichen könnte. Am Zeitplan soll sich nach Darstellung der Regierung nichts ändern: Bis Ende März will sie den Brief nach Brüssel schicken. Das nötige Gesetz soll binnen Tagen eingebracht werden, wie Brexit-Minister David Davis sagte.

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(FILES) This file photo taken on July 13, 2015 shows the US national flag (L) and the flag of the European Union are placed side-by-side during the Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) meeting at the European Union Commission headquarter in Brussels. With the anti-globalization wave impacting major elections, including that of US President-elect Donald Trump, the United States and European Union made a final plea on January 17, 2017 to conclude a trans-Atlantic free trade deal. Just three days away from Trump's inauguration, and on the same day British Prime Minister Theresa May unveiled her Brexit blueprint, Washington and Brussels issued a joint report to sell the benefits of the massive trade pact that just needs the political will to conclude. / AFP PHOTO / THIERRY CHARLIER

Was bedeutet das Urteil für die Verhandlungen mit der EU?

Entscheidend ist für Brüssel der Zeitplan - EU-Chefunterhändler Michel Barnier hat bereits betont, dass er das Scheidungsgesuch so bald wie möglich will. Denn er weiß: Die vorgesehene Trennungszeit von zwei Jahren ist sehr knapp. Die für Frühjahr 2019 geplante Europawahl setzt den Rahmen - es wäre wohl unsinnig, noch einmal für eine Übergangsfrist britische Abgeordnete wählen zu lassen. Das jetzige Parlament braucht zudem Zeit, den Ausstiegsvertrag mit Großbritannien zu ratifizieren. Barnier will die Verhandlungen mit London deshalb bis Oktober 2018 abschließen. Käme das Scheidungsgesuch später, wüchse der Zeitdruck. Die EU-Kommission gab sich aber am Dienstag erneut einsilbig. "Wir warten auf die Benachrichtigung", sagte ein Sprecher.

Was muss eigentlich so langwierig verhandelt werden?

Barniers Team muss mit der britischen Regierung Hunderte Aspekte klären, und zwar in zwei Schritten, wie der Unterhändler klarstellte: erst die bisherigen Verbindungen kappen, dann die künftigen Beziehungen klären. Bei der Entflechtung geht es grob gesagt um vertraglich festgelegte Rechte und Pflichten Großbritanniens: Was wird mit britischen Zusagen in dem über 2019 hinausgehenden Finanzplan? Wie werden die internationalen Klimaschutzpflichten der EU entflechtet? Was passiert mit der gemeinsamen Agrarpolitik? Mit den Fischfangquoten? Den Handelsverträgen mit Kanada oder Singapur? Mit der EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland? Mit Gibraltar? Mit Verteidigungspolitik und Terrorbekämpfung? Das sind nur wenige Beispiele.

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Wo liegen die Knackpunkte?

Für die knapp drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien und die mehr als eine Million Briten auf dem Kontinent ist vor allem eine Frage zentral: Dürfen sie bleiben und behalten sie ihre bisher von der EU garantierten Rechte - vom Aufenthalt über die Arbeitserlaubnis bis hin zu Besitzrechten wie Einheimische? Sowohl für London als auch für Brüssel steht das ganz oben auf der Tagesordnung. Für beide Seiten entscheidend ist zudem die Frage, wie sie künftig wirtschaftlich zusammenarbeiten. Mays Ansage ist klar: Sie will hinaus aus dem EU-Binnenmarkt, um den Zuzug von EU-Bürgern zu stoppen. Stattdessen will sie ein ambitioniertes Freihandelsabkommen. Für Barnier ist das erst der zweite Schritt nach einer sauberen Trennung.

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Gina Miller, co-founder of investment fund SCM Private (C) makes a statement following the judgement in a case to decide whether or not parliamentary approval is needed before the government can begin Brexit negotiations, outside the Supreme Court, opposite the Houses of Parliament, in central London on January 24, 2017. Britain's Supreme Court ruled Tuesday that the government must obtain the approval of parliament before starting the Brexit process, in a defeat for Prime Minister Theresa May. "Today, by a majority of eight to three, the Supreme Court rules that the government cannot trigger Article 50 without an Act of Parliament authorising it to do so," said Lord David Neuberger, the president of the court. / AFP PHOTO / Isabel INFANTES
Seit Monaten hat sie diesem Tag entgegengefiebert: Die Investmentmanagerin Gina Miller hat den Brexit-Prozess losgetreten. Die 51-Jährige forderte, dass auch das britische Parlament ein Wörtchen bei der Scheidung von der EU mitzureden habe - und bekam jetzt recht.

Die einen feiern Miller und ihre Mitstreiter dafür wie eine Volksheldin, die anderen verachten sie. Von manchen Kritikern wird die politische Aktivistin in Anspielung auf die gefährliche Spinne als "Schwarze Witwe" verhöhnt oder sogar bedroht.

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Gina Miller leaves the Supreme Court following the decision of a court ruling that Theresa May's government requires parliamentary approval to start the process of leaving the European Union, in Parliament Square, central London, Britain, January 24, 2017. REUTERS/Toby Melville
Vor dem höchsten britischen Gericht war es am Dienstag direkt nach der Urteilsverkündung zunächst relativ ruhig. Hier und dort Fahnen und Schilder von Brexit-Gegnern und -Befürwortern. Doch dann kam sie - beruflich erfolgreich, reich, schön, Kämpfernatur. Als Miller erhobenen Hauptes vor die Kameras trat, kam es zu tumultartigen Szenen. Ein Mann ging in der Menge zu Boden. Jeder wollte ein Interview mit der Frau, die Brexit-Anhängern das Leben schwer macht, oder zumindest einen Blick von ihr erhaschen.

Miller hatte mit Weggefährten, darunter einem Friseur, Klage beim High Court in London eingereicht. Ihr Ziel: Sie wollte, dass Premierministerin Theresa May die Zustimmung des mehrheitlich EU-freundlichen Parlaments für die Austrittsverhandlungen einholen muss. Das Gericht gab ihr recht; die Regierung legte Berufung beim Supreme Court ein - und verlor jetzt den Rechtsstreit.

Den Brexit abzuwenden, lag Miller nach eigenen Worten fern. Es sei ihr um die Art und Weise des Ausstiegs gegangen. Es sei ein Rechtsstreit gewesen und keine Politik, sagte sie nach dem jüngsten Urteil.

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Gina Miller (2nd R) leaves the Supreme Court following the decision of a court ruling that Theresa May's government requires parliamentary approval to start the process of leaving the European Union, in Parliament Square, central London, Britain, January 24, 2017. REUTERS/Stefan Wermuth
Millers Engagement machte sie zur Hassfigur einiger Brexit-Befürworter. Mehrfach wurde sie im Internet bedroht. Aus eigener Tasche habe sie Zehntausende von britischen Pfund für Sicherheitsvorkehrungen gezahlt, berichtete die dreifache Mutter in Interviews. Ein 55-Jähriger aus dem Südwesten Englands, der sie rassistisch beschimpft haben soll, war festgenommen worden.

Ihre Ängste sind verständlich: Im vergangenen Juni hatte ein 52-Jähriger die Labour-Abgeordnete und erklärte Brexit-Gegnerin Jo Cox ermordet. Der Mann wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Die Juristerei ist Miller, die in Guyana geboren wurde und in Großbritannien aufwuchs, nicht fremd: Als Tochter eines Anwalts studierte sie Betriebswirtschaft und Jus in London. Sie hatte verschiedene Jobs; auch als Model soll die zierliche Frau gearbeitet haben. Mit ihrem dritten Ehemann Alan Miller - der britischen Medienberichten zufolge "Mr. Hedgefonds" genannt wird - gründete sie die Vermögensverwaltungsgesellschaft SCM Private. Das vermögende Paar engagiert sich stark für soziale Zwecke und sammelt Spenden.

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Gina Miller, co-founder of investment fund SCM Private makes a statement following the judgement in a case to decide whether or not parliamentary approval is needed before the government can begin Brexit negotiations, outside the Supreme Court, opposite the Houses of Parliament, in central London on January 24, 2017. Britain's Supreme Court ruled Tuesday that the government must obtain the approval of parliament before starting the Brexit process, in a defeat for Prime Minister Theresa May. "Today, by a majority of eight to three, the Supreme Court rules that the government cannot trigger Article 50 without an Act of Parliament authorising it to do so," said Lord David Neuberger, the president of the court. / AFP PHOTO / Daniel LEAL-OLIVAS
Nicht nur Freunde machte sich Miller, als sie versteckte Gebühren in vielen Investmentfonds anprangerte, wie sie der "Financial Times" berichtete. Im Kampf gegen Unehrlichkeit rief sie die "True and Fair"-Kampagne ins Leben. Auf einer Party hätten ihr Gäste vorgehalten, dass sie das Finanzviertel ruiniere, und sie "Schwarze Witwe" genannt.

Besonders betroffen machen Miller, selbst dunkelhäutig und britische Staatsbürgerin, die rassistischen Äußerungen, die sie und viele andere ertragen müssen. Hunderte von Menschen hätten ihr von solchen Erlebnissen berichtet. "Sie sprachen zum Beispiel in einer anderen Sprache an der Bushaltestelle und wurden dafür bespuckt oder getreten - das ist entsetzlich", sagte sie der Zeitung "Guardian".

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Gina Miller (C) speaks outside the Supreme Court following the decision of a court ruling that Theresa May's government requires parliamentary approval to start the process of leaving the European Union, in Parliament Square, central London, Britain, January 24, 2017. REUTERS/Jonathan Brady/Pool
Doch das dürfte die 51-Jährige nicht von weiteren Einsätzen abhalten - ob beruflich oder für soziale und politische Zwecke. Sie sei wie ein Rennfahrer: "Wenn ich meine Karriere mit einem Grand Prix vergleiche, habe ich erst die Hälfte der Runden geschafft."
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TOPSHOT - A statue of Winston Churchill is silhouetted by the Elizabeth Tower, more commonly known as "Big Ben", and the Houses of Parliament in central London on January 24, 2017. The British government's Brexit plan will be put to the test on Tuesday with a landmark court ruling on whether it has the right to kick-start the country's EU departure without parliamentary approval. The 11 Supreme Court judges are expected to rule against the government in a move which could delay Prime Minister Theresa May triggering Article 50 of the EU's Lisbon Treaty, which would formally begin exit negotiations. / AFP PHOTO / Daniel LEAL-OLIVAS
Das Brexit-Urteil des obersten britischen Gerichts wird nach Einschätzung von Ökonomen einen Ausstieg des Landes aus der EU nicht verhindern. Die Verhandlungen könnten sich allerdings verzögern, meinen die Experten. Nach einem Urteil des Supreme Courts in London vom Dienstag muss das britische Parlament über die Austrittserklärung aus der Europäischen Union (EU) mitentscheiden.

"Weder hat das Gericht den Brexit rückgängig gemacht, noch wird die Regierung den Brexit stoppen", sagte ING-Diba-Chefvolkswirt Carsten Brzeski. Ähnlich argumentierte Dekabank-Chefvolkswirt Ulrich Kater. Auch wenn die britische Premierministerin Theresa May die Zustimmung des Parlaments einholen müsse, bevor sie den EU-Austritt des Landes erkläre, "wird die Regierung auf einen harten Brexit hin verhandeln". Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer geht ebenfalls davon aus, dass London weiterhin den Weg eines harten Brexit wählen wird - das Land also auch den EU-Binnenmarkt verlässt.

Ifo-Chef Clemens Fuest ist dagegen etwas zuversichtlicher. Die britische Regierung müsse den Abgeordneten nun darlegen, wie sie sich die Beziehungen zur EU nach dem Austritt vorstelle. Das könnte dazu führen, "dass die Stimmen an Gewicht gewinnen, die einen "Hard Brexit" ablehnen und eine möglichst enge Anbindung der britischen Wirtschaft an den europäischen Binnenmarkt wünschen".

Eine Umkehr des Brexit-Referendums halten Ökonomen allerdings für ausgeschlossen. "Den Geist, den man mit dem Referendum aus der Flasche gelassen hat, wird man nie wieder einfangen können", sagte Brzeski. Der Supreme Court in London hatte deutlich gemacht, dass das Urteil nicht das Referendum zum EU-Austritt selbst infrage stelle.

Der Weg zum Brexit sei "mit neuen Fragezeichen versehen", sagte der Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Volker Treier, einer Mitteilung zufolge. Ohne Klarheit und Berechenbarkeit halte sich die Wirtschaft aber noch stärker als ohnehin mit Investitionen zurück. "Es wäre für die Wirtschaft auf beiden Seiten des Kanals von großer Bedeutung, dass die britische Regierung bis zum Antrag Ende März weiß, was sie will."

Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) mahnte dagegen, der Brexit sollte nicht nur als Gefahr gesehen werde. In den Verhandlungen über den EU-Austritt Londons könne auch ein Ergebnis erzielt werden, das beispielhaft sein könnte für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Oder als Beispiel für EU-Staaten der fernen Zukunft wie Russland, die Türkei oder die Ukraine. Gleichzeitig müsse die Währungsunion gestärkt werden.

Anleger am deutschen Aktienmarkt reagierten gelassen. Der Dax stieg bis zum Nachmittag um 0,17 Prozent auf 11 565,11 Punkte. Der Kurs des britischen Pfunds sank nach dem Urteil hingegen auf zuletzt 1,2455 US-Dollar. Vor der Entscheidung hatte das Pfund noch über der Marke von 1,25 Dollar notiert.

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