"Blut und Ratlosigkeit"

"Blut und Ratlosigkeit"
Internationale Pressekommentare zur Syrien-Krise vom Dienstag.

Le Monde (Paris): "Die Revolte des syrischen Volkes gegen die Diktatur von Bashar al-Assad und der Baath-Partei lässt die internationale Gemeinschaft scheinbar gleichgültig. Die Schwierigkeiten, auf das Regime in Damaskus Druck auszuüben, sind bekannt. Syrien ist nicht Libyen. Syrien wird im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen von Russland und China geschützt und besitzt eine von Moskau gut ausgerüstete Armee. Das Regime ist nicht isoliert wie das von Muammar al-Gaddafi in Tripolis. Es wird vom Iran wirtschaftlich unterstützt. Dennoch: Der Sturz des Hauses Assad ist zweifellos einer der Schlüssel zu einer Demokratisierung des Nahen Ostens. Amerika und Europa müssen in Syrien einer zersplitterten Opposition helfen sich zu organisieren. Sie müssen sie politisch und wirtschaftlich unterstützen. Die Syrer verdienen das mehr denn je!"

Süddeutsche Zeitung (München): "'Sanktionen' gegen Syrien, das heißt im Klartext: Anders als in Libyen wird der Westen nicht in den Krieg ziehen, um die Bevölkerung zu schützen. Die Zeiten, in denen Syriens Präsident Bashar al-Assad neben seinem französischen Gastgeber die Parade zum 14. Juli abnehmen konnte, sind ohnehin längst vorbei. Von Reisesperren oder Vermögensblockaden werden sich Assad oder die 34 anderen Personen und Institutionen, welche die Europäische Union auf ihre Schwarze Liste setzt, kaum beeindrucken lassen. Noch weniger von einem EU-Waffenembargo, denn der Hauptlieferant für Rüstungsgüter ist Russland. Russen und Chinesen dürften auch verhindern, dass der Weltsicherheitsrat schärfere Maßnahmen verhängt. Moskau will auf keinen Fall, dass Damaskus ins nahöstliche Klientensystem der USA überwechselt. Und der russische Flottenstützpunkt in Tartus, der einzige der Schwarzmeerflotte im Mittelmeer, soll ebenfalls erhalten bleiben. Auch Indien, Südafrika, Brasilien sowie Syriens Nachbar Libanon - sie alle ohne Vetorecht - werden kaum mitmachen. Ohnehin sind die Erfahrungen mit dem Feldzug gegen den Libyer Muammar al-Gaddafi keine Ermutigung zu neuen militärischen Unternehmen. Fünf Monate Luftkrieg in Libyen haben das Arsenal und die Kasse der beteiligten Länder bereits aufs Äußerste strapaziert. (...) Ein Sturz Assads würde indessen nicht unbedingt Frieden und Freiheit bedeuten: Der libanesische Bürgerkrieg und die irakischen Wirren sind Warnzeichen für alle."

Frankfurter Rundschau: "Syrien zeigt die Grenzen westlicher Macht und straft den Anspruch Lügen, moralische Außenpolitik zu betreiben. Wer Libyens Bürger vor Gaddafi schützt, müsste auch gegen Assad ziehen. Für einen Angriff auf Assad gäbe es realpolitische Gründe. Er ist Irans wichtigster Partner, bietet Hisbollah und Hamas Rückhalt, drangsaliert den Libanon, bastelt an Atombombe und C-Waffen. Ein Eingreifen in Syrien wäre schwierig, er könnte mit Assads Sieg enden. Fiele Assad, stünde Syrien vor dem Bürgerkrieg. Solche Szenarien könnte der Westen nur mit größtem Aufwand verhindern. So bleiben die Massaker in Syrien zu betrauern und man muss eingestehen, dass der Westen nicht fähig ist gutzumachen, was er einst in Arabien verbrach."

"Überfordert, wirkungslos"

die tageszeitung (taz) (Berlin): "Die Antwort des syrischen Regimes auf den Aufstand wird mit jedem Tag blutiger. Immer mehr drängt sich die Frage auf: Warum greift die internationale Gemeinschaft nicht ein, wie sie es in Libyen tut? Die Antwort liegt in der besonderen regionalen Position Syriens. (...) An der Grenze zu Israel ist seit 40 Jahren trotz aller Rhetorik kein Schuss gefallen, de facto fungiert das syrische Regime als Garant für Ruhe und Stabilität an dieser Grenze. Als die Regierung in Damaskus zu Beginn des Aufstands mehrfach hunderte unbewaffneter Menschen über die Demarkationslinie auf die Golanhöhen durchließ und israelische Soldaten auf diese feuerten, war das weniger ein Ablenkungsmanöver vom heimischen Aufstand als vielmehr ein Warnsignal an Israel sowie die an USA und die Europäer. (...) Die zweite Trumpfkarte des syrischen Regimes ist seine politische Achse mit dem Iran. (...) Das iranische Regime hat die ägyptischen und tunesischen Revolutionäre als Helden bezeichnet, die Aufständischen in Syrien dagegen als 'Terroristen' gebrandmarkt. Damit verbunden ist der Einfluss Syriens im Nachbarland Libanon. Wenn das Regime Assad will, kann es mit Hilfe der von ihm gesponserten schiitischen Hisbollah dort einen politischen Brand legen, der sich nur schwer löschen ließe."

Der Tagesspiegel (Berlin): "Es zeichnet sich ab, dass Syrien in einen Bürgerkrieg schlittert, dass der Clan von Staatschef Assad mit immer härteren Militärschlägen versucht, seine Macht zu retten, und noch mehr Empörung hervorruft. Gerade im Ramadan, so ist zu befürchten, könnte sich die Spirale der Gewalt noch schneller drehen. In einem Land, das wie kaum ein anderes in der arabischen Welt eine geostrategische Bedeutung hat. Kann sich der Westen da raushalten? Versinkt Syrien im Chaos, ist der Nahe Osten weit stärker betroffen als im Fall Libyen. Wird Syrien zunehmend instabil, strahlt die Eskalation auf den Libanon aus, auf Israel, auf die Türkei und auch auf den Iran. Die im Libanon mitregierende Hisbollah, ein hochgerüsteter Staat im Staate und erklärter Feind Israels, wird von Syrien und dem Iran unterstützt, mit Geld und Waffen. Jede Schwächung Assads gefährdet die Machtposition der Hisbollah. Wie wird sie reagieren? Die Hisbollah hat demonstriert, dass sie sich im Libanon nichts sagen lässt. (...) Ein Schlag gegen 'die Juden' wäre auch im Interesse des iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad, der schon lange Israels Vernichtung propagiert. Zumal die Proteste in Syrien an die abgewürgten Unruhen im Iran nach Ahmadinejads Wiederwahl erinnern. Ein Erfolg der Demonstranten in Syrien würde auch die Opposition im Iran ermutigen. Der Westen, so scheint es, kann bisher nur zuschauen, wie Assads Schergen das eigene Volk massakrieren..."

Handelsblatt (Düsseldorf): "Die Politik des Westens in der arabischen Welt ist ein Desaster: Trotz des NATO-Einsatzes über Libyen ist Diktator Muammar al-Gaddafi noch immer im Land. Das immer repressiver werdende Regime in Saudi-Arabien stützen deutsche Panzer-Lieferungen. Ägypten, Tunesien und Marokko haben außer aufmunternden Worten bisher nichts bekommen, nicht einmal Handelserleichterungen. Und in Syrien fällt die internationale Staatengemeinschaft Autokrat Assad, der seine Opposition massakriert, nicht in den Arm. Die Instrumente, die der Westen gegen Assad einsetzt, sind wirkungslos. Nicht einmal zur Rücktrittsforderung kann man sich durchringen, von harten Wirtschaftssanktionen einmal ganz zu schweigen. Warum die Abdankung Gaddafis verlangt wird, aber die Assads nicht, konnte die (deutsche) Bundesregierung nicht erklären. (...) Selbst wenn NATO-Länder wie Großbritannien, Frankreich und die USA Assad militärisch die Stirn bieten wollten - sie könnten es gar nicht: Der Einsatz in Libyen zeigt, wie überfordert die transatlantische Allianz inzwischen ist. Es ist nicht allein der politische Wille, der fehlt, um einen Despoten in die Schranken zu verweisen. Es fehlt mittlerweile auch die militärische Macht."

Stuttgarter Zeitung: "Krieg gegen das eigene Volk - anders kann man die blutigen Überfälle der Armee auf Städte und Dörfer in Syrien nicht mehr nennen. Seit Mitte März haben mehr als 1700 Bürger ihren Mut, gegen das Regime Assad zu protestieren, mit dem Leben bezahlt. Fast alle Provinzstädte sind inzwischen in Aufruhr, zwei wichtige Ölpipelines beschädigt. Die Landwirtschaft ist gelähmt und die Wirtschaft steht vor dem Kollaps. Seit den Millionenmärschen vor zwei Wochen in Hama und Deir al-Zor wissen Assad und seine Getreuen, dass die Unruhen im Rest des Landes eine kritische Masse erreichen können. Dreißig Tage Ramadan, die könnten sich zu dreißig Tagen Massenprotesten aufschaukeln und am Ende das Baath-Regime tatsächlich ins Wanken bringen. Und so macht der Assad-Clan noch einmal tödlichen Ernst. Er feuert auf seine Bürger, schießt auf ihre Häuser und verschleppt Tausende in nächtlichen Razzien. Die zaghaften politischen Offerten des Präsidenten aber sind längst im Pulvernebel verschwunden. Niemand in Syrien glaubt mehr daran, dass das total verkrustete Regime sich wirklich reformieren kann. Mit den staatlichen Gewaltexzessen aber steigt auch die Ratlosigkeit. Denn kein Machthaber kann auf Dauer alle paar Tage eine neue Panzeroffensive gegen seine eigenen Einwohner befehligen."

"Empört, und dennoch ohnmächtig"

La Croix (Paris): "Nach den Gewalttaten vom Sonntag reicht die Empörung nicht mehr. Das syrische Regime hat ein neues Massaker an seiner Bevölkerung begangen (...). In Washington und Berlin beschuldigen die Verantwortlichen nun Damaskus, einen 'Krieg gegen sein eigenes Volk' zu führen. Empört, fühlen sich die westlichen Regierungen dennoch ohnmächtig. Als Zuschauer erörtern sie gezielte Sanktionen gegen die hohen Verantwortlichen in Damaskus und wollen den Druck auf Präsident Assad erhöhen, damit er demokratische Reformen einleitet. Wenn sie die Hypothese eines bewaffneten Eingreifens erwähnen, dann dient das dazu, sie zurückzuweisen und zu erklären, dass die politischen und militärischen Bedingungen nicht gegeben sind."

Express (Köln): "Seit Monaten lässt Assad sein eigenes Volk zusammenschießen - mit Panzern und Artillerie. Und was tut die Weltgemeinschaft? Nicht viel. Bundeskanzlerin Angela Merkel äußert sich empört. In einer EU-Erklärung heißt es, jetzt - während des Ramadan - seien die Übergriffe des syrischen Militärs 'noch inakzeptabler' als vorher. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton droht Assad mit weiteren Sanktionen... Wie bitte? Es gibt noch Sanktionen unterhalb der militärischen Intervention, die nicht verhängt sind? Was muss denn noch passieren, bis die volle Bandbreite des Maßnahmenkatalogs gegen ein Land mit einem barbarischen Diktator ausgeschöpft wird?"

Berliner Morgenpost: "In Syrien jedoch können wir wirklich nicht helfen. Weil dessen Armee zu hochgerüstet ist und weil im Nahen Osten ein Flächenbrand droht, wenn der Westen den Alliierten Irans angreift. Aber wir könnten besser handeln, als wir es tun. Wir könnten wenigstens klar aussprechen, was offenkundig ist: Assad muss gehen. Die exzessive Gewalt gegen sein eigenes Volk nimmt ihm auf Dauer jede Legitimation zur Herrschaft. Wer Widerspruch mit einem Massaker beantwortet, der kann kein Träger staatlicher Gewalt mehr sein. Er ist zum Fluch seines Volkes geworden, und das ist der Assad-Clan in Wahrheit schon lange. Warum sagt Angela Merkel das nicht, warum nicht Barack Obama? Fürchten sie, später auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen, wenn Assad durchhält? Wenn man hört, dass die (deutsche) Bundesregierung Assads Vorgehen gegen Zivilisten 'auf das Schärfste verurteilt', den Diktator aber zu nichts mehr aufruft, als dazu, die Gewalt 'umgehend einzustellen', dann kommt einem der Gedanke, dass Berlin das auch beim nächsten Massenmord fordern kann, den Damaskus befiehlt. Und dass die Bundesregierung damit schon rechnet..."

Die Welt (Berlin): "Dass wir uns dennoch nicht prinzipiell gegen Assad aussprechen, lässt den fatalen Schluss zu, wir wollten das Gespräch mit Damaskus nicht ganz abreißen lassen. Das ist der ganz reale Schaden, den wir mit unseren maulfaulen Verurteilungen riskieren: dass die Revolutionäre in der arabischen Welt den Eindruck gewinnen, wir glaubten nicht daran, dass die Demokratie siegen könnte. Dass wir es vielleicht auch gar nicht wirklich wollen. Ob die Menschen in der neuen arabischen Welt in Zukunft unsere Werte teilen wollen, hängt auch und vor allem davon ab, wie glaubwürdig wir sie jetzt vertreten. Wir tun zu wenig."

Hamburger Abendblatt: "Hilflos angesichts dieser Barbarei ist die Weltgemeinschaft deshalb, weil Sanktionen und Resolutionen allein kaum jemals Tyrannen in die Knie gezwungen haben. Schon gar keinen, der mit Partei, Armee, Geheim- und Sicherheitsdiensten ein derart solides Fundament der Macht hat wie Assad. Hilflos auch deshalb, weil eine internationale Militärintervention wenig wahrscheinlich ist. Syrien ist militärisch sehr viel stärker als Libyen, an dessen Regime sich die NATO bereits seit Monaten mit nur bescheidenem Erfolg abarbeitet. Und hilflos deshalb, weil Syrien über seinen Verbündeten Iran sowie die angeschlossenen Terrormilizen Hisbollah und Hamas ein furchtbares Instrument in der Hand hält, um die ganze Krisenregion in Brand zu setzen.

Bild (Berlin): "Die Weltgemeinschaft? Die noch im Falle Libyens so protzig die Backen aufgeblasen hat? Fordert, mahnt, kritisiert - und lässt den Schlächter Assad weitermachen. Es ist ein blamables Schauspiel! Warum? Weil zwei Großmächte - Russland und China - im UN-Sicherheitsrat jedes wirklich harte Vorgehen gegen die Mächtigen von Damaskus verhindern. Dagegen scheint alle westliche Diplomatie machtlos zu sein. (...) Es wird höchste Zeit, diese Machtverhältnisse - zumindest in den Vereinten Nationen - zu ändern. Auch wenn das den Menschen in Syrien nicht mehr hilft."

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