"Habe genug von dieser Angst und dem Wahnsinn"

Trauerfeier der vier erschossenen Opfer im jüdischen Supermarkt
Viele Juden in Frankreich denken ans Auswandern.

Mehrere schwer bewaffnete Soldaten bewachen den Eingangsbereich der jüdischen Schule Yaguel Yaacov von Montrogue, einer Gemeinde am südwestlichen Stadtrand von Paris. Insgesamt 4700 Polizisten und Soldaten patrouillieren seit Sonntag vor den rund 720 jüdischen Schulen, Synagogen und kulturellen Zentren Frankreichs. Doch vor den Toren der kleinen Grundschule in Montrogue bleibt die Besorgnis der Eltern spürbar. "Wir haben Angst um unsere Kinder", sagt eine der Mütter in die TV-Kameras. "Das ist für uns genauso unerträglich wie für jeden anderen Franzosen. Wir haben genug davon, in dieser Angst und in diesem Wahnsinn zu leben."

Noch immer trauert die Stadt Montrogue um jene junge Polizistin, die vergangenen Donnerstag Morgen von Amedy Coulibaly erschossen worden war. Von jenem Terroristen, der tags darauf in einem jüdischen Supermarkt in Paris vier Männer ermordete.

Schule als Ziel

Als seine Opfer – die am Dienstag in Israel begraben wurden – hatte sich der Radikal-Islamist Coulibaly explizit Juden ausgesucht. Und in der jüdischen Schule Yaguel Yaacov bangt man noch heute: "Es gibt den begründeten Verdacht, dass das eigentliche Ziel Coulibalys unsere Schule war", glaubt ihre Direktion. Denn kaum hundert Meter von der Schule entfernt hatte der Terrorist die junge Polizistin niedergestreckt.

Schon einmal, im Frühling 2012, hatte ein französischer radikal-islamistischer Attentäter eine jüdische Schule angegriffen. Drei Kinder und ein Lehrer starben damals im Kugelhagel. Und nicht erst seit damals stellen sich mehr und mehr der rund 500.000 Juden in Frankreich die Frage: Bleiben? Oder angesichts der unbestreitbar zunehmenden Zahl antisemitischer Übergriffe auswandern?

Ziel: Israel

Schon im Vorjahr hatten knapp 7000 französische Juden ihre Heimat für immer in Richtung Israel verlassen – so viele wie noch nie seit der Staatsgründung Israels. Die französischen Neuankömmlinge stellten damit 2014 die stärkste Zuwanderergruppe im Land. Und es könnten, wenn es nach Israels Premier Benjamin Netanyahu geht, noch viel mehr werden: "Allen Juden Frankreichs, allen Juden Europas sagte ich: Israel ist nicht nur der Ort, wohin Ihr euch beim Gebet wendet, der Staat Israel ist eure Heimstatt."

Seit den Attentaten der Vorwoche hat in der größten jüdischen Gemeinde Europas die Debatte wieder öffentlich mit voller Wucht eingesetzt. Jetzt zu gehen, sei eine "Flucht" und liefere Frankreich den "Monstern des Terrorismus" aus, heißt es etwa in einem Leitartikel der Tribune juive. Auf der anderen Seite aber herrscht das Gefühl vor: "Wir französischen Juden sollten gehen, bevor es zu spät ist."

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