Analyse: "Ankara ließ den IS lange gewähren"

Die Gefahr des IS (im Bild ein Kämpfer in Mossul) wurde unterschätzt.
Analyse. Das ambivalente Verhältnis der Türkei zur Terror-Miliz.

Da lagen sie mit ihren langen Bärten in einer Rehab-Klinik im türkischen Reyhanli, sieben Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Und wurden aufgepäppelt, um danach wieder in den Dschihad nach Syrien zu ziehen. Dieses Bild bot sich dem KURIER-Reporter 2013 bei einem Lokalaugenschein. Es reiht sich ein in eine Kette von Indizien und Berichten, dass Ankara die Islamisten unterstützte, wenigstens aber wegschauten, wenn etwa Kämpfer oder Waffen ins südliche Bürgerkriegsland geschmuggelt wurden. "Die Türkei ließ den IS (die Terror-Miliz "Islamischer Staat") viel zu lange gewähren", meint der Nahost-Experte am Österreichischen Institut für Internationale Politik Cengiz Günay zum KURIER.

Einerseits wollte die Regierung die Extremisten instrumentalisieren, um den syrischen Machthaber Assad zu stürzen und um die Kurden im Norden zumindest einzudämmen. Andererseits hofften die Verantwortlichen darauf, von Anschlägen verschont zu bleiben, wenn sie den IS nicht behelligten. Zudem wollte sich Ankara voll auf den Kampf gegen die Kurden-Guerilla PKK konzentrieren.

Zweifrontenkrieg

Das Kalkül sei nicht aufgegangen, sagt Günay, "die Türkei befindet sich in einem Zweifrontenkrieg (PKK und IS)". Zu spät habe sich die Regierung in die Anti-IS-Allianz eingegliedert und das nur widerwillig. Wobei Ankara nach diesem Schritt, der letztlich auf Drängen der USA zustande gekommen war, seine militärische Schlagkraft vor allem gegen Stellungen der PKK im Nordirak und nicht gegen die islamistischen Milizen in Syrien richtete. "Man hat die Gefahr des IS unterschätzt", analysiert Günay, "jetzt versucht die Türkei wieder die Kontrolle zu übernehmen, aber es ist schon sehr spät, der IS ist eine Realität in der Türkei."

Wobei den Insider ein Faktum sehr überrascht: "Während die Regierungspartei AKP die Zügel so fest anzieht wie nie zuvor, was schon fast faschistische Ausmaße annimmt, konnte sich der IS unter den Augen des Sicherheitsapparates oder von ihm gar nicht bemerkt ein dichtes Netzwerk aufbauen. Und das Gleiche gilt für die PKK, die ihre Strategie geändert und zu einem Stadt-Guerilla-Kampf übergegangen ist. Letztlich wird man sich mit der PKK einigen, einigen müssen, weil dieser Konflikt militärisch nicht zu gewinnen ist. Was den IS anbelangt – der ist gefährlicher für die Türkei."

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