Schwerer Taliban-Angriff auf Provinzhauptstadt Kunduz

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Vor einem Jahr, Ende September 2015, hatten die Islamisten die Stadt bereits einmal erobert.

Die radikalislamischen Taliban haben nach afghanischen Medienberichten in der Nacht zum Montag einen schweren Angriff auf die Hauptstadt der nordafghanischen Provinz Kunduz begonnen. Sie sollen in die Stadt vorgedrungen sein, berichtet der Sender Tolo TV. Der gut vernetzte Journalist Bilal Sarwary sagte per Kurznachrichtendienst Twitter, ein Kampfhubschrauber greife die Taliban an.

Am Boden gebe es schwere Kämpfe, zum Beispiel nahe der Universität. Vor einem Jahr, Ende September 2015, hatten die Islamisten die Stadt bereits einmal erobert. Sie war damals für fast zwei Wochen in ihrer Gewalt - ein Schock für afghanische Regierung und internationale Gemeinschaft.

Die Taliban hatten Kunduz vor einem Jahr in einer Blitzoffensive erobert. Die afghanischen Sicherheitskräfte konnten die Stadt erst nach mehreren Tagen mit internationaler Unterstützung zurückerobern. Kundus lag während des ISAF-Kampfeinsatzes jahrelang im Zuständigkeitsbereich der Bundeswehr.

Können internationale Hilfsorganisationen in Afghanistan noch arbeiten, ohne angegriffen zu werden? Ein Jahr nach dem Bombardement einer Klinik in Kunduz ist eine Wiedereröffnung noch immer schwierig, beklagen der Leiter von Ärzte ohne Grenzen, Guilhem Molinie, und die deutsche Projektleiterin Angelika Herb im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.

Vor einem Jahr wurde das Traumazentrum von Ärzte ohne Grenzen im nordafghanischen Kunduz von der US-Luftwaffe unter afghanischer Anleitung bombardiert - es wurde angeblich für eine Talibanstellung gehalten. Bisher gibt es keine Koordination unter jenen, die den Krieg in Afghanistan führen und kaum einen gemeinsamen Nenner zum Schutz der Zivilisten,

Herr Molinie, bis heute hat die Klinik nicht wieder aufgemacht, obwohl Kunduz ein Hauptziel der Taliban ist und sich die humanitäre Situation dort weiter stark verschlechtert. Wieso?

Guilhem Molinie: Wir wollen ja. Aber wir verhandeln seit einem Jahr mit Amerikanern, mit der afghanischen Regierung, mit den Taliban, mit wirklich allen Parteien zum Krieg über die Konditionen, unter denen wir dort wieder eine Klinik aufmachen können. Sicherheit für die Klinik ist ein Faktor. Akzeptanz für die Tatsache, dass Ärzte alle Menschen behandeln, die zu ihnen kommen und ihre Waffen draußen lassen, ein anderer - das beinhaltet Sicherheitskräfte, internationale Soldaten und eben die Taliban. Die große Frage für uns ist derzeit: Ist es noch möglich, in Afghanistan neutral medizinische Versorgung anzubieten, ohne angegriffen zu werden?

Was für Reaktionen bekommen Sie auf diese Frage?

Molinie: Sie variieren stark. Der Krieg wird ausgefochten von so vielen Akteuren. Von US-Spezialkräften, Spezialkräften anderer Länder, afghanischen Spezialkräften, der regulären Armee, der Polizei, lokalen Polizeimilizen, illegalen Milizen - und es gibt so gut wie keine Koordination. Und so gut wie keinen gemeinsamen Nenner, was die Akzeptanz der Genfer Konventionen zum Schutz von Zivilisten angeht. Das bedeutet, dass wir jeden einzelnen Akteur selber kontaktieren müssen, um die roten Linien auszufühlen.

Frau Herb, Ärzte ohne Grenzen unterstützt auch eine weitere Klinik in Helmand - zweites Hauptziel der Taliban in diesem Jahr. Sie waren gerade eine Woche in der Provinzhauptstadt Laschkargar, die mittlerweile eingekesselt ist. Wie ist die Situation?

Angelika Herb: Wir sind deswegen nicht stärker beschäftigt, wie man annehmen könnte. Im Gegenteil: Als die Kämpfe so richtig aufgeflammt sind, sind viele Betten leer geblieben. Die Leute trauen sich einfach nicht mehr aus den Häusern. Unsere Abteilung für unterernährte Kinder ist normalerweise voll und laut, aber dieser Tage - stiller. Und wir merken, dass die Fälle, die wir sehen, erst in der großen Not gebracht werden und sich dann natürlich ernster präsentieren.

Zum Beispiel?

Herb: Wir hatten einen Meningitis-Fall, ein Mädchen aus Nawa, einem der umkämpften Nachbarbezirke. Das Kind war in schlechter Verfassung. Sie hatte schon seit vier Tagen Symptome, aber wegen der Kämpfe war die Straße gesperrt und die Eltern konnten sie nicht bringen. 24 Stunden nach Beginn der Behandlung ist sie dann in ein Koma gefallen und gestorben.

Auch in Helmand nehmen die Luftangriffe auf die Taliban und die Talibanangriffe auf die Provinzhauptstadt zu. Wie kann man dort ein zweites Kunduz verhindern und die Klinik schützen?

Herb: Ich habe dort die Runde gemacht, Armeechef, Polizeichef und so weiter und die GPS-Koordinaten der Klinik und unseres Gästehauses noch mal ausgeteilt. Ich habe auch noch mal erklärt, wer wir sind, dass wir neutral sind, dass keine Waffen in die Klinik dürfen. Und das war sehr notwendig. Der Polizeichef zum Beispiel war neu. Er sagte: 'Wie, meine Waffen draußen lassen? Da bin ich doch schwach!' Es hat mich eine Stunde gekostet, bis er gesagt hat, okay, ich gebe das an meine Leute weiter.

Ist unter den internationalen Truppen das Verständnis für den Schutz von Kliniken und Zivilisten besser?

Molinie: Nein, wir sehen das nicht bei allen. In Kunduz und Helmand ist zum Beispiel die Zahl der Luftangriffe stark angestiegen. Und die Flugzeuge fliegen übers Land, als lebten da keine Menschen. Wenn Sie den Bericht des US-Militärs über das Bombardement der Klinik in Kunduz lesen - da wird es deutlich: Der Spezialkräfte-Kommandeur sagt dort: 'Ich konnte nicht glauben, dass dort noch Zivilisten leben sollten.' Sie sind aber da. Und sie brauchen Hilfe und Ärzte.

ZUR PERSON: Guilhem Molinie ist Direktor von Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan. Angelika Herb leitet die Programme in Helmand und Kandahar. Ärzte ohne Grenzen hat 2000 afghanische Angestellte und Dutzende internationaler Experten im Land. Mit einem Budget von rund 30 Millionen Dollar betreibt die Organisation Kliniken in den umkämpften Provinzen Kunduz, Helmand, Khost und Kandahar.

(Das Gespräch führte Christine-Felice Röhrs/dpa)

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