Ärger, Reue, Schreiduelle: In London weiß keiner weiter

Katerstimmung, auch auf den Straßen Londons
Nach dem Votum fliegen jetzt die Fetzen: Niemand will den Brexit einleiten.

Der Streit war so laut, dass die Schimpfworte durch die Gänge des Parlaments in Westminster hallten: Die dort lauernden Reporter brauchten nur mitzuschreiben. „Hinterhältig mies gemacht“ hätten die „Verräter“ Labour-Chef Jeremy Corbyn, nur um sich an die Macht zu putschen, brüllte Corbyns Sprecher einen der Rebellen unter den Parlamentariern an.
Die formieren sich seit dem Wochenende zu Dutzenden, um den Umsturz in der Partei zu erzwingen. Jeremy Corbyn, den sie für den Sieg der EU-Gegner beim Referendum in der Vorwoche mitverantwortlich machen, weil er sich nur halbherzig für den Verbleib in der Union engagiert habe, soll sofort abtreten. „Acht Meter groß steht sein Schicksal an die Wand geschrieben“ bemüht einer der rebellischen Abgeordneten ein biblisches Bild: „Wenn er das nicht erkennen kann, braucht er dringend eine neue Brille.“

172:40 gegen Corbyn

Doch Corbyn denkt vorerst nicht an Rücktritt, auch wenn ihm am Dienstag eine überwiegende Mehrheit der Labour-Fraktion (172:40) bei einer Vertrauensabstimmung das Misstrauen aussprach. „Ich bin von 60 Prozent der Labour-Mitglieder und -Unterstützer demokratisch gewählt worden, um eine neue Politik umzusetzen und ich werde sie nicht durch meinen Rücktritt verraten“, so Corbyn.

Während die Labour-Opposition mit parteiinternen Grabenkämpfen beschäftigt ist und viele schon mit einer endgültigen Spaltung der Partei rechnen, gibt es bei den regierenden Konservativen nach dem Brexit-Votum und dem angekündigten Rücktritt von Premier Cameron weder eine neue Führung noch eine erkennbare politische Linie. Niemand weiß, wie es mit dem von den Wählern beschlossenen Austritt weitergehen soll.

Cameron hat bereits deutlich gemacht, dass nicht er, sondern sein Nachfolger den Antrag auf EU-Austritt in Brüssel stellen solle, Finanzminister Osborne hat ein geplantes Sparbudget, das die Einbußen durch den Brexit ausgleichen soll, vertagt. Das sei jetzt nicht mehr seine Sache, meinte der Cameron-Vertraute, der sich für den Verbleib in Europa eingesetzt hatte. Die Pläne für den EU-Austritt sollten die vorlegen, die ihn unbedingt haben wollten.

Wut auf Boris wächst

Doch von deren Plänen ist weiterhin nichts zu sehen. Boris Johnson, Kopf der Kampagne für den EU-Austritt, der Cameron unbedingt beerben will, beschränkt sich vorerst darauf zu betonen, dass alles beim Alten bleibe: Die Zusammenarbeit mit der EU werde intensiviert, der gemeinsame Markt und das Aufenthaltsrecht für EU-Bürger blieben aufrecht.

All das im klaren Widerspruch zu den Versprechen, die man während der Kampagne gemacht hat.

Doch mit seinem Spiel auf Zeit macht sich der Populist Johnson immer mehr Feinde in der Regierungspartei. Seine Favoritenrolle für den Posten des Premiers scheint gefährdet. "Stop Boris"-Bewegung nennt man inzwischen die Gruppe an einflussreichen Parteigrößen, die seine Kür zum Partei- und damit zum Regierungschef im Herbst verhindern wollen. Johnsons gefährlichste Herausforderin ist Innenministerin Theresa May, auch sie Gegnerin des EU-Austritts, den sie aber als neue Premierministerin auszuhandeln hätte (siehe auch Seite 6).

Rücktritt vom Austritt

Dass May derzeit so hoch gehandelt wird, ist ein weiteres Signal dafür, dass auch bei den Konservativen die Angst vor den Konsequenzen eines EU-Austrittes wächst und man daher lieber auf Zeit spielt. Noch deutlicher macht das ein weiterer Anwärter für Camerons Nachfolge, Gesundheitsminister Jeremy Hunt. Der schlägt vor, gleich ein neues Referendum abzuhalten: "Bevor wir den Countdown starten, sollten wir einen Deal mit der EU aushandeln und den Briten zur Abstimmung vorlegen."
Das planlose Hin und Her in Westminster lässt die Katerstimmung nach dem Referendum bei vielen Briten stärker werden. "Eigentlich wollten wir ja den Politikern nur eine blutige Nase verpassen", erklärt ein älterer Londoner in einem Pub im Arbeiterviertel Camden seine Stimme für den Austritt. Dass Englands Fußballteam Montagabend obendrein aus der EURO rausgeflogen ist, trübt die Stimmung weiter: "Wir brauchen einen Premier und einen guten Mittelstürmer – und was haben wir? Boris Johnson und Wayne Rooney."

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