„Das ist ökonomischer Selbstmord“

... des britischen Premiers David Cameron.
40 Jahre EU-Mitgliedschaft der Briten: Londons offener Anti-Europa-Kurs bereitet der britischen Industrie Sorgen.

Ist schon ungewohnt, die riesige chinesische Fahne, die da gleich neben dem britischen Union Jack vor dem Werkstor flattert. Aber in Longbridge hat man sich an Überraschungen inzwischen gewöhnt – vor allem an unliebsame. Hier in Mittel-England schlug das Herz der britischen Autoindustrie, rollten Fahrzeuge mit Markennamen wie Rover, Mini oder MG vom Band. 2005, nach unzähligen verunglückten Fusionen, Verkäufen und Reformen, kam das endgültige Aus. Jetzt, ein paar mühsame Jahre später, versucht man wieder auf die Beine zu kommen: Mit einem chinesischen Autoriesen als Eigentümer, der legendären Sportwagenmarke MG als Namensgeber und neuen, ziemlich normalen Mittelklasseautos. Die werden zwar vorerst großteils in China gebaut, sind aber – und das betonen die britischen Ingenieure hartnäckig – „in England designed, konstruiert und endgefertigt“.

„Das ist ökonomischer Selbstmord“
A MG sports car is seen at MG Rover's Longbridge factory in Birmingham, central England, May 29, 2007. The Midlands plant has been inactive since Nanjing Automobile bought MG Rover in 2005 with the loss of about 6,000 jobs after planning to produce the cars in China. REUTERS/Darren Staples (BRITAIN)
Wohin der chinesische SAIC-Konzern mit diesen Autos will, bleibt beim Werksbesuch nicht lange geheim: „Wir wollen den europäischen Markt erreichen.“ Ein britischer Markennamen samt britischer Kfz-Technik: Das soll für die Chinesen der Brückenkopf nach Europa werden – und für ein Stück englischer Industrietradition die Hoffnung auf eine Zukunft.

Entsprechend skeptisch sehen die Kfz-Experten hier in Longbridge die wachsenden Spannungen zwischen der Insel und der EU. „Wir sind Teil des europäischen Marktes“, betont ein Manager: „Und jene, die das nicht wollen, sind immer noch eine Minderheit.“

„Immer noch“, da schwingt in Longbridge, aber auch in vielen anderen Werkshallen hier im Herzen der britischen Autoindustrie rund um Birmingham einige Nervosität mit. Denn diese Minderheit wird, wie man eingestehen muss, „immer lauter – und auf sie wird immer mehr gehört“.

Radikale am Wort

Offene Ohren für Euroskeptiker und sogar für wütende Europa-Gegner muss die von Premier Cameron geführte Regierung in London haben. 40 Jahre nach dem Beitritt Großbritanniens (1. 1. 1973) sind die immer häufiger am Wort – schließlich sitzt ja ein Großteil dieser Gegner in Camerons eigener Partei. „Ich galt ja einmal als extremer Europaskeptiker – jetzt bin ich unter den Gemäßigten“, scherzt ein konservativer Politiker im Economist über die Haltung in seiner Partei zu Europa. Eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft rückt näher.

Vetodrohungen beim EU-Gipfel, Blockadepolitik bei immer mehr EU-Regelungen und Verträgen: Premier Camerons neue Rolle auf der europäischen Bühne mag das tief sitzende Misstrauen vieler Briten gegenüber Europa befriedigen. Für die sich mühsam durch die Krise arbeitende britische Industrie ist das „ökonomischer Selbstmord“. So drastisch formuliert das Martyn Mangan von der örtlichen Handelskammer in Birmingham: „Gerade jetzt, wo wir uns endlich wieder in eine Wirtschaft verwandeln, die auch etwas herstellt, brauchen wir den europäischen Markt.“

Der Markt, um den geht es den meisten Unternehmern hier. Viele der EU-Regelungen kommen ihnen lästig vor, die Abgaben nach Brüssel natürlich viel zu hoch. Glühende Europäer findet man auch in der britischen Industrie kaum. Man würde sich, wie Martyn Mangan das formuliert, weltweit gerne „als der Brückenkopf nach Europa“ verkaufen. Andere Gemeinsamkeiten, vor allem aber die gemeinsame Währung, will man sich möglichst vom Leib halten: „Der Euro, mit seinen ganzen Risiken – da sind wir schon froh, dass wir nicht dabei sind.“

Mit britischem Humor In Europa ja, aber lieber am Rand, „als eine Art Satellit“: Dort sehen sich viele, die in diesen Krisenjahren in Mittel-England versuchen, die britische Industrie wieder auf die Beine zu bringen. Und genau dafür braucht man auch den Kontinent auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Wirklich anfreunden aber können sich auch britische Manager mit diesem Europa nicht. Und was Frau Merkel und Herr Hollande damit so anstellen, das kommentiert man hier am liebsten mit britischem Humor:„Vor uns aus können wir schon bei der EU bleiben, aber erst, wenn die Franzosen austreten – und die Deutschen ein bisschen mehr zahlen.“

Koalitionskrach um Europa wird lauter

Es war gewissermaßen eine vorauseilende Retourkutsche, die der Vizepremier da servierte. In einem aufsehenerregenden Interview mit demGuardian warnte Nick Clegg davor, den britischen Anti-EU-Kurs voranzutreiben: „Wenn wir uns jetzt plötzlich aus dem Unternehmen verabschieden, würde das Jahrhunderte von britischem Engagement und britischer Führungsposition in Europa auf den Kopf stellen.“

Worauf der liberale Pro-Europäer Clegg in diesem Interview anspielt, wird Premier David Cameron voraussichtlich schon in den ersten Wochen des neuen Jahres offiziell machen. In einer Grundsatzrede zur EU will Cameron Großbritanniens neue EU-Strategie vorstellen – und die lautet, auf einen Punkt gebracht: London legt bei der EU-Integration den Rückwärtsgang ein. Über wesentliche Bereiche wie etwa Finanzmarkt oder Arbeitsrecht will man in Zukunft wieder im nationalen Alleingang entscheiden.

Im Gegenzug will man endlich die Reformen in der Eurozone – an der man ohnehin nicht teilnimmt – abnicken. Bisher hatten die Briten diese blockiert und dadurch ein ziemliches Vertrags-Wirrwarr ausgelöst.

Referendum 2015

Viel schwerwiegender aber könnte die zweite Entscheidung sein, die Cameron in seiner Rede präsentiert: Großbritannien führt 2015 eine Volksabstimmung über die jüngsten EU-Reformen durch. Dieses Referendum aber wird nicht nur über diese Reformen entscheiden, sondern über etwas weit Grundsätzlicheres: Großbritanniens EU-Mitgliedschaft.

„Eine komplette, Neuverhandlung der Mitgliedschaft“, müsse das Ziel sein, so formuliert es einer der Euro-Skeptiker. Dahinter steht eine Strategie, die viele britische Konservative seit Langem verfolgen. Man will zwar den gemeinsamen europäischen Markt nicht verlassen, ansonsten aber mit der EU und ihrer politischen und sozialen Integration nichts zu tun haben.

Die Anti-Europa-Stimmung wird durch die rechte „UK-Independence-Party“ UKIP weiter angeheizt. Dass die kürzlich bei Lokalwahlen Camerons Konservativen schmerzhaft viele Stimmen weggenommen hat, schränkt den Spielraum des Premiers weiter ein. Sollte die UKIP mit ihrem offenen „Raus-aus-der-EU“-Kurs bei den Europawahlen 2014 den erwarteten Erfolg einfahren, kommt die Regierung noch mehr unter Druck. Dann könnte die britische EU-Mitgliedschaft 2015 endgültig beendet werden. Laut Umfragen ist eine Mehrheit der Briten ohnehin schon jetzt dafür.

Streitpunkte: Londons Ärger mit der EU

Finanzen Großbritannien hat sich konsequent geweigert, die strengeren Regeln des Fiskalpakts für Staatshaushalte zu akzeptieren. Es blockiert eine härtere Regulierung der Finanzmärkte, um London als Finanzplatz nicht zu gefährden.
Das Land besteht auch weiterhin auf die einst unter Margaret Thatcher ausgehandelten Ermäßigungen bei EU-Beiträgen.

Justiz Großbritannien hat die EU-Grundrechtecharta nicht anerkannt und blockiert außerdem die polizeiliche und juristische Zusammenarbeit bei der Jagd auf Verbrecher.

Arbeitsrecht Großbritannien boykottiert die EU-Richtlinien für Arbeitszeiten, weil die britische Wirtschaft flexiblere Zeiten fordert.

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