22 Schüsse in einer Herbstnacht

22 Schüsse in einer Herbstnacht
Karel Duffek war zwischen die Fronten geraten und wurde liquidiert.
Von Uwe Mauch

Auch wenn der Wachturm in Raabs an der Thaya, unweit der grünen Grenze zum heutigen Tschechien, nur zu Demonstrationszwecken aufgestellt wurde, erweckt er bei älteren Semestern Erinnerungen, die im Genre des Agententhrillers angesiedelt sind.

22 Schüsse in einer Herbstnacht
Es ist, als könnte man die keuchenden Schatten in einer eisigen Novembernacht erahnen und wieder die tödlichen Schüsse hören. Auch den Grazer Historiker Stefan Karner lässt diese eigenartige Stimmung nicht kalt. Vor der Präsentation seines neuen Buchs Halt! Tragödien am Eisernen Vorhang hat er mit dem KURIER einen der schaurigen Schauplätze der Zeitgeschichte aufgesucht.

Unter die Haut

Karners emsiges Team vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung durfte erstmals Einsicht in die Verschlussakten der tschechoslowakischen Geheimdienste nehmen. Man recherchierte in Archiven in Prag, in Brünn und Bratislava. Das Buch gibt jetzt ein erstes Zeugnis über ein Jahr Arbeit.

Karners wichtigste Erkenntnis: „Das Grenzgebiet zwischen Österreich und der damaligen Tschechoslowakei zählte zu den gefährlichsten Sperrzonen im Kalten Krieg.“ An Thaya und March starben fast so viele Flüchtlinge wie an der Berliner Mauer. „Tote gab es sogar deutlich mehr, weil gleichzeitig auch so viele Grenzsoldaten ums Leben kamen.“

22 Schüsse in einer Herbstnacht
Bei der konkreten Beschreibung der Menschen, die ermordet wurden, tut sich der Historiker offensichtlich schwer. Kein Wunder: Geheimdienstleute halten sich in ihren Protokollen über die Ausschaltung des „Klassenfeinds“ nicht lange mit dem Menschen an sich auf. Die Schilderung einzelner realer Schicksale geht dennoch unter die Haut.

So wie jene von Karel Duffek. Wenigstens so viel ist gewiss: Duffek war Jahrgang 1928, also gerade einmal 22 Jahre alt, als man ihn an der Grenze ermordete. Er hatte mit seinen Eltern bis zum Kriegsende in Wien gelebt, zog dann in die ČSSR und wohnte im grenznahen Bezirk Jindřichův Hradec. Wie und warum er im Februar 1948 zum Militärgeheimdienst kam? Was für ein Typ er war? Karner weiß nur: „Es hat zuvor Zigaretten über die Grenze geschmuggelt.“

Wurde er zum Doppelagenten? Auch das ist nicht sicher. Die Akten der Staatsschnüffler, die stets mit Vorsicht zu lesen sind, wissen nur: Duffek wurde von seinen Vorgesetzten nach Bayern und auch nach Österreich geschickt, um in den Auffanglagern, die für Flüchtlinge eingerichtet worden waren, zu spionieren. Seine geheime Mission blieb nicht lange geheim: In St. Pölten wurde er von österreichischen Behörden, die einen Tipp bekommen hatten, festgenommen.

Damit dürfte der Spion endgültig zwischen die Fronten geraten sein. Für seine Landsleute schien erwiesen, dass er nach seiner Enthaftung in Österreich auch für die Amerikaner gearbeitet hat. Als Doppelagent.

In einen Hinterhalt

22 Schüsse in einer Herbstnacht
Verlag Ecowin, Autor Stefan Karner, Buch: Halt! Tragödien am eisernen Vorhang Die Schlussakten
Der Historiker Stefan Karner schildert in seinem Buch mehrere Fälle. Von Menschen, die am Eisernen Vorhang brutal exekutiert wurden. Auch der Name Karel Duffek findet sich unter den Toten. Den Dokumenten zufolge wurde er in der Nacht zum 2. Dezember 1950 von seinen Vorgesetzen an der Grenze zum Waldviertel in einen Hinterhalt gelockt und mit insgesamt 22 Schüssen niedergestreckt.

Nicht ganz in das von Karner bediente Bild von Gut und Böse passt das Ende der Akte Duffek: Gleich sechs Grenzsoldaten und drei Geheimdienstler wurden in Prag wegen Mordes zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Auch in totalitären Systemen gibt es wohl Menschen, die sich für Gerechtigkeit einsetzen.

Den Verurteilten wurde nicht abgenommen, dass sie Duffek auf der Flucht erschossen haben. Kein einziger der 22 Schüsse hatte ihn in den Rücken getroffen.

KURIER: Herr Professor Karner, was hat Sie bisher am meisten beeindruckt?
Stefan Karner: Zum einen, dass es an unserer Grenze zur Tschechoslowakei viel mehr Tote gab als an der viel längeren innerdeutschen Grenze. Zum anderen, dass zu den mindestens 127 Menschen, die auf der Flucht erschossen wurden, rund 600 Grenzsoldaten hinzukamen.

Wie erklären Sie das?
Das sind Soldaten, die auf Minen gestiegen, in den Strom eines Grenzzaunes gegriffen oder in ein „Friendly fire“ geraten sind. Viele haben dem unmenschlichen Druck, der auf ihnen lastete, nicht standgehalten und Selbstmord begangen. Das waren dort echte Tragödien.

Bestand für österreichische Staatsbürger Lebensgefahr?
Selbstverständlich. Vor allem für jene, die an der Grenze Fluchthilfe geleistet haben. Auch jene Flüchtlinge, die später die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen haben, konnten sich lange nicht sicher sein.

Haben Sie die Rechercheergebnisse auch mit amerikanischen Akten abgeglichen?
Das haben wir leider noch nicht. Die Forschung zum Kalten Krieg steht in Österreich noch am Anfang. Dabei ist diese zweite Realität unter der Tuchent sehr spannend.

Was ist noch offen?
Wir haben bisher noch nicht einmal ein Prozent der Akten durchgesehen. Österreich war eine Relaisstation für viele Geheimdienste, wobei wir heute wissen, dass der tschechoslowakische Dienst die bestorganisierte Truppe hatte. Die hatten auch in der amerikanischen Zone eigene Residenturen, die hatten sogar in Bruck an der Mur eigene Angestellte.

Sind Sie auch auf einen Whistleblower gestoßen?
Nein, das ist auch bis zum Jahr 1989 nicht zu erwarten.

Apropos Edward Snowden: Macht es einen Unterschied, für welches politische System ein Geheimdienst arbeitet?
Grundsätzlich nicht. Die Enthüllungen von Snowden sind für uns nichts Neues. Alle Dienste machen dasselbe. Auch wenn es heute andere technische Möglichkeiten gibt, Ziel der geheimdienstlichen Arbeit ist immer der gläserne Mensch.

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