17-Jährige unter Boko Haram: "Ich war eine Selbstmordattentäterin"

Bekannteste Verschleppung: 2014 von mehr als 200 Schülerinnen (Archivbild).
Junges Mädchen weigerte sich, westlicher Bildung abzuschwören und sich den Terroristen zu unterwerfen. Sie sollte einen Militärkontrollpunkt in die Luft sprengen.

Fatima Ali wickelt ihr leuchtend türkisfarbenes Kopftuch enger ums Gesicht. Sittsam bedeckt ein bunter Wickelrock ihre Beine bis zu den Knöcheln, als sie sich auf einen abgenutzten, roten Teppich kniet. "Eigentlich sollte ich längst tot sein", sagt die 17-Jährige leise, aber bestimmt.

Vor drei Jahren griffen schwerbewaffnete Kämpfer der Terrormiliz Boko Haram die Stadt Bama im Bundesstaat Borno im Nordosten Nigerias an. Sie stürmten auch das Haus, in dem Fatima mit ihren Eltern und Geschwistern lebte. "Ich hatte mich hinter einer Tür versteckt. Doch sie fanden mich und zerrten mich aus dem Haus", erinnert sich die Jugendliche.

Weinen und Flehen nützten nichts. Fatima wurde geschlagen und mit vielen anderen Kindern und Frauen in Fahrzeuge gepfercht. Im Busch-Lager der Terroristen, tief im Sambisa-Wald, der ungefähr so groß ist wie die Schweiz, wurde ihnen befohlen, westlichen Werten abzuschwören. Den Mädchen und Frauen würden nun Ehemänner zugeteilt, erklärte ein Kommandant der Miliz, dessen Bodyguards ihm mit Maschinengewehren beiseite standen.

"Ich sagte, ich sei verlobt"

Doch Fatima weigerte sich, sich den Terroristen zu unterwerfen. "Ich sagte, ich sei verlobt. Das Datum für die Hochzeit sei bereits bestimmt", sagt die junge Muslimin. Erbost trennte der Kommandeur Fatima vom Rest der entführten Gruppe. Täglich wurde sie körperlich und seelisch genötigt, um dem "Feind der westlichen Kultur" abzuschwören.

Der Name Boko Haram bedeutet in der Sprache Hausa grob übersetzt "westliche Bildung ist Sünde". Seit 2009 haben die sunnitischen Fundamentalisten, die einen sogenannten Gottesstaat errichten wollen, bei Angriffen und Anschlägen schätzungsweise 20 000 Menschen im Nordosten von Nigeria und in angrenzenden Gebieten der Nachbarländer getötet. Die Gruppe hat nach Angaben der Menschenrechtsgruppe Amnesty International tausende von Mädchen und Frauen entführt, die hauptsächlich als Sexsklavinnen gehalten und teilweise zu Selbstmordattentaten gezwungen werden. Die bekannteste Verschleppung war die von mehr als 200 Schülerinnen aus dem nordöstlichen Ort Chibok im April 2014, die internationales Entsetzen auslöste.

17-Jährige unter Boko Haram: "Ich war eine Selbstmordattentäterin"
A woman enters one of the consultation rooms at the IRC (International Rescue Committee) health clinic in Bakassi IDP (Internally Displaced People) Camp in Maiduguri in north-east Nigeria on July 7, 2017. The International Rescue Committee (IRC) in Bakassi IDP camp provides vital health care services, including running a medical facility, distributing medication, family planning counselling and skills training for girls and women affected by the Boko Haram insurgency. The Boko Haram insurgency, which has killed at least 20,000 since 2009, has left more than 2.6 million people homeless and triggered a humanitarian crisis in Nigeria's northeast. / AFP PHOTO / STEFAN HEUNIS

"Hoffnungsloser Fall"

Nachdem Fatima sich für viele Tage geweigert hatte, sich den Terroristen zu unterwerfen, galt sie als "hoffnungsloser Fall". Man nahm sie zur Seite und brachte ihr bei, eine Bombe zu detonierten, erzählt die junge Frau. Der Allmächtige habe sie für eine besondere Aufgabe ausgewählt, erklärte ihr einer der Fundamentalisten.

Fatima wurde unter Drogen gesetzt. Eines Morgens wurde ihr ein Sprengstoffgürtel umgebunden. Mit einem kleinen Mädchen an der Hand sollte sie auf einen militärischen Kontrollpunkt zugehen und die Bombe auslösen, befahl man ihr. "In dem Moment wurde mir klar, dass ich auf eine Selbstmord-Mission geschickt wurde", erzählt Fatima der Deutschen Presse-Agentur. "Alle um mich herum waren schwer bewaffnet. Ich hatte keine Chance, mich zu wehren".

Auf Motorrädern wurden Fatima und das Mädchen in die Nähe eines Kontrollpunktes gefahren. Wo genau sich dieser befand, weiß sie nicht. Die Kämpfer versteckten sich im Gebüsch, als die Mädchen begannen, auf Soldaten der nigerianischen Armee zuzulaufen.

"Ich habe etwas an meinem Körper. Fasst mich nicht an"

"Stehen bleiben! Wo wollt ihr hin?" rief ein Soldat, sobald er die Mädchen sah. Fatima nahm all ihren Mut zusammen. "Ich bin eine Studentin", sagte sie, sobald sie in Hörweite war. "Ich habe etwas an meinem Körper. Fasst mich nicht an". Sie habe auf Englisch gesprochen, statt in ihrer Muttersprache, Kanuri, um sich als gebildete Person kenntlich zu machen, erklärt Fatima.

Dann fielen die ersten Schüsse. Die Fundamentalisten seien aufgrund des Wortwechsels misstrauisch geworden und hätten versucht, die Bombe mit Schüssen auszulösen, glaubt Fatima. Schnell schob ein Soldat die Mädchen hinter eine Barriere. Minuten später waren zwei der Terroristen tot, die beiden anderen verhaftet. Eine Spezialeinheit der Polizei entfernte Fatimas Sprengstoffgürtel. Dann wurde sie zu einer militärischen Untersuchungshaftanstalt in Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno gebracht.

Für mehr als fünf Monate wurde Fatima verhört. Immer wieder stellte man ihr die gleichen Fragen über ihre Entführung und die Selbstmord-Mission - in der Hoffnung, neue Informationen über die Terrorgruppe zu erlangen, aber auch, um sicherzustellen, dass Fatima keiner Gehirnwäsche unterzogen worden war.

17-Jährige unter Boko Haram: "Ich war eine Selbstmordattentäterin"
TOPSHOT - A girl watches other children playing on a merry-go-round in an abandoned amusement park in Maiduguri, Nigeria, on April 27, 2017. In Maiduguri, where the population has doubled to over two million as a result of Boko Haram insurgency, thousands of children are homeless. / AFP PHOTO / Florian PLAUCHEUR

Tagelang versteckt

Schließlich wurde die junge Frau entlassen und in ein Flüchtlingslager gebracht. Tagelang versteckte sie sich in einem Zelt, aus Angst, von anderen Flüchtlingen als Boko-Haram-Spionin beschuldigt zu werden. Doch dann traf sie auf eine Nachbarin aus Bama, die sich an Fatima erinnerte und ihr half, ihre Mutter zu finden, die in einem anderen Lager in Maiduguri lebte. "Das war großes Glück", sagt Fatima und lächelt.

Mutter und Tochter leben nun seit gut zwei Jahren zusammen im Flüchtlingslager. Das Schicksal des Rests ihrer Familie ist ihnen unbekannt. Ihr größter Wunsch ist, in ihre Heimatstadt zurückkehren zu können. Selbst wenn sie nicht wissen, was sie dort erwartet.

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